An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
sehen Sie nur alles durch. Frater Sebastián wird nichts dagegen haben.»
Er ließ sie allein. Es gab auch einen Tisch, der aussah, als habe schon zu Kolumbus’ Zeiten jemand daran gearbeitet. Davor stand eine Bank aus Rohrgeflecht, und die Truhe an der Wand war mit einem rostigen Schloss versehen. Vergebens versuchte Janna den Deckel zu heben.
Ihre Finger wanderten über die Regalreihen. Vieles waren nur lose Blätter, zu Packen gebunden. Als sie ein Buch herauszog, musste sie kräftig husten. Dieses vermoderte Papier war womöglich gesundheitsschädlicher als alle Miasmen der Tropen. Alles, was sie herauszog und öffnete, war schlecht leserlich. Nicht nur, weil die Blätter vergilbt waren. Janna musste tote Larven, Raupen und einige lebende Skorpione herausschütteln.
Nicht nur deshalb erwies sich diese so hochtrabend ‹Bibliothek› genannte Sammlung als Enttäuschung. Es gab viel Lateinisches, viel Aristoteles, einen dicken Katechismus, die Werke Asia und Europa des Papstes Pius II. und ein Buch Urbans des VIII., dessen lateinischer Titel das ganze erste Blatt einnahm. Aber nichts, was geeignet gewesen wäre, ihr die Zeit zu vertreiben oder sie etwas zu lehren. Vielleicht die Flugschrift Mundus Novus des Amerigo Vespucci, in der er die Neue Welt beschrieb? Aber Latein war ihr entschieden zu mühsam.
Sie zog die Historia del oro heraus, Verfasser unbekannt. «Geschichte des Goldes …»
Auch dieses Buch drehte sie erst um und schüttelte es aus. Vorsichtig setzte sie sich auf die knarrende Bank und legte es auf den Tisch. Sie las von Niederländern, die vor mehr als zweihundert Jahren den Orinoco heraufgesegelt und bis zu einer Stadt namens Santo Tomé de Guayana gekommen waren. Ein spanischer Konquistador hatte sie kurz zuvor gegründet. War das nicht ein alter Name Angosturas? Sie las sich fest. Auch die Welser fanden Erwähnung. Ihr Statthalter in Venezuela, Ambrosius Ehinger, fand auf der Suche nach Gold den Tod durch einen vergifteten Pfeil. Auch von der Jagd nach Sklaven war die Rede. Spanien verbot das Töten und Versklaven der Indianer. Menschenfresser jedoch waren davon ausgenommen. Also hatte man einfach alle, die man fing, als Caraibe markiert: Kannibale.
Der Mensch ist des Menschen Wolf , dachte sie schaudernd.
Als Nächstes versuchte sie es mit einer der losen Blattsammlungen. Die Kordel zerfiel unter ihren Fingern. Sie fand Notizen, alte Flugschriften, Seiten, die aus Büchern herausgerissen worden waren. Dazwischen die ein oder andere Zeitung. Die waren erst wenige Jahre alt, sozusagen noch frisch.
«Was machst du hier?»
Arturo kam kauend herein, eine aufgeschnittene Frucht in der Hand. Er wischte sich mit dem Handrücken roten Saft vom Kinn.
«Willst du nicht zum Essen kommen? Es gibt Affenschinken in Maisfladen.»
«Später. Sieh mal», sie drehte sich und zog den Robinson aus dem Regal. «Das hier ist eine englische Ausgabe von 1719. Ich glaube, es ist die Originalausgabe. Ist das nicht unglaublich?»
Davon gänzlich unbeeindruckt, steckte er sich ein weiteres Stück in den Mund. «Und das?»
«Eine Zeitung aus Caracas. Da steht: Der Libertador auf der Flucht nach Cartagena. Und hier … Mir kommt da ein Gedanke.»
Sie holte sich drei weitere Packen, öffnete den ersten und begann jedes Blatt zu prüfen und auf die Seite zu legen. Der Staub kitzelte in ihrer Nase.
«Was für einer?», brummte Arturo ungeduldig.
«Wenn unser Unbekannter in der Mission im Delta ein Schriftstück hinterließ, in dem er über den Schatz berichtet, dann hat er das hier an diesem Ort vielleicht auch getan? Oder irgendetwas anderes, das uns weiterhelfen könnte?»
Er hockte sich an ihre Seite. Die schwächliche Bank knarrte bedrohlich. «Hältst du das für möglich?»
Ungerührt blätterte sie weiter. «Es wäre natürlich auch möglich, dass wir das Tagebuch eines Mannes finden, der darin erzählt, dass er den Schatz geborgen hat.»
Sein Knurren verriet, wie sehr ihm diese Aussicht missfiel.
«Arturo, mit dem Lesen ist es bei dir zwar nicht allzu gut bestellt, aber denkst du, du würdest die Schrift wiedererkennen?»
Er zog den Brief hervor, glättete ihn und legte ihn vor sich, damit er ihn gut im Blick hatte. Dass er ihr half, machte die Sache noch einmal so aufregend. Hunger? Jetzt doch nicht! Es genügte ihr vollauf, dass er ihr ein Stück seiner Frucht hinhielt. Seite an Seite arbeiteten sie. Irgendwann erschien Frater Domingo im Eingang, schaute eine Weile zu und ging kopfschüttelnd
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