An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
an. Ein Schatten kam von dort, wo sie den Pfad vermutete, und wuchs vor ihr auf. «Arturo?», fragte sie bang.
Eine Hand griff nach ihrer und zog sie auf die Füße.
«Wie oft muss ich dich noch retten?», schalt er sie. Sein Mund roch fruchtig. Er hatte ihn mit einem Pflanzenstängel gereinigt, wie er es ihr auf der Herfahrt gezeigt hatte.
«Nun übertreiben Sie nicht. Wieso sind Sie wieder hier?»
«Mir war so, als hätte ich dich unter den Farnen hocken sehen. Ich dachte, ich hätte mich geirrt. Aber als ich dich im Dorf nicht fand, dachte ich, es könne nicht schaden, noch einmal nachzusehen.»
Ein unverhoffter Blitz zuckte. Für einen Sekundenbruchteil sah sie sein Gesicht. Die Spannung des Gewitters lag in der Luft. Das Krachen war ohrenbetäubend.
«Komm jetzt, Janna.»
An seiner Hand lief sie dicht hinter ihm. Er war langsam, aber sie hätte vermutlich eine Stunde gebraucht oder sich ohnehin verirrt.
Im Dorf waren die Menschen inzwischen in ihre Hütten geflüchtet. Die Lichter von Lampen und Kerzen schimmerten hinter den Vorhängen. Er schob Janna in ihre Hütte. Auf ihr «Vielen Dank und gute Nacht» gab er nur ein unbestimmtes Brummen von sich.
«Arturo?», hielt sie ihn zurück. «Darf ich … darf ich etwas fragen?»
Er schwieg. Sie nahm das als Zustimmung. Aber sie wusste gar nicht, was sie jetzt fragen sollte. Vielmehr durfte. Nur dass sie das Bedürfnis hatte, nach diesem wunderlichen Erlebnis noch ein Wort mit ihm zu wechseln.
«Was sind das für Brandnarben auf Ihrer Brust? Und die unter Ihrem Auge?»
Schweigen. Was war das auch für eine indiskrete Frage! Andererseits – sie hätte es wirklich gerne gewusst.
«Bitte entschuldigen Sie», sagte sie steif, da außer schwerem Atmen nichts kam. Diese Frage hätte sie nicht ausgerechnet jetzt stellen dürfen, denn hatte sie damit nicht verraten, ihn beobachtet zu haben? Wie peinlich! «Ich hätte Sie so etwas nicht fragen dürfen. Sie wissen von mir schließlich auch nichts.»
«Ich weiß von dir sehr viel.»
«Ach!»
«Du bist in einer wohlhabenden Kaste aufgewachsen. Du hast einen Vater, eine Schwester, die dünkelhaft ist, einen Bruder, der ein Gelehrter sein möchte, und deine Mutter starb bei deiner Geburt. Deshalb ließ dir dein Vater alles durchgehen, was man dir heute anmerkt. Du hast eine Großmutter, die dir eine Sprache beigebracht hat, die kein Mensch versteht.»
Das hatte sie alles erzählt? Sie war sich sicher, ihm nur hochmütige Brocken hingeworfen zu haben. Und die hatte er tatsächlich alle aufgesammelt und sich gemerkt?
«Nun … So viel wüsste ich von Ihnen auch gern.»
«Wozu?» Er wandte sich zum Gehen.
«Arturo? Haben Sie eigentlich gemerkt, dass Sie mich eben ‹Janna› genannt haben?»
Er sah über die Schulter. «Du hast doch gesagt, dass du so heißt.»
«Das ist schon lange her.»
«Ich habe mir auch das gemerkt.»
Da war es wieder, sein seltenes Lächeln. Dann hatte ihn auch schon die Nacht verschluckt. Sie berührte ihren Mund. Hatte sie es tatsächlich erwidert?
«Kiek mol wedder in», murmelte sie.
9. Kapitel
Janna konnte sich einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren. Arturo, der Geheimnisvolle, dem man gewöhnlich jedes Wort aus der Nase ziehen musste, hatte sich gezwungen gesehen, Frater Sebastián de Benaocaz um ein Gespräch zu bitten.
Der Guardian neigte sich vor und legte die Fingerspitzen aneinander. «Sie suchen also eine Stelle, wo der Fluss – wie sagten Sie? – ‹einem über den Kopf hinwegfließt›. Und wo der Felsen rot gebändert ist?»
Den Brief des Unbekannten hatte Arturo nicht vorgezeigt. So wenig wie er seine wahre Absicht offenbaren wollte. Eher würde er sich die Hand abhacken. Er hatte Janna nicht ins Gebet genommen, damit sie schwieg. Die Gefahr, dass sie von sich aus von dem Schatz redete, bestand nicht. Einen so zornerfüllten Arturo wollte sie nicht erleben.
«Ja», erwiderte er knapp.
Seine Miene, seine ganze Haltung drückten aus, dass er nicht nach dem Zweck gefragt werden wollte. Welche Ausrede hätte auch glaubhaft geklungen? Dem Guardian wiederum war anzusehen, dass er sich seine Gedanken machte. Arturo sah nun einmal nicht wie ein Mann aus, der mit Lupe, Notizblock und Botanisiertrommel vertraut war – die Welt erforschen zu wollen wäre der einzige andere glaubwürdige Grund gewesen.
Der Blick Frater Sebastiáns wanderte von Arturo zu ihr, und sie fragte sich, ob ihre Anwesenheit ihn daran hinderte, den richtigen Schluss zu ziehen. Denn
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