An einem Tag im Januar
Juniorprofessor, Ehemann und Vater eines zehnjährigen Kindes, der gerade an seinem ersten Buch schrieb. Die Frau war fünfundzwanzig, Geschichtsdoktorandin in Bloomington. Erst telefonierten sie nur (sie promovierte bei einem Freund von ihm und hatte ihn wegen einer Recherchefrage angerufen), dann begannen sie eine Korrespondenz über die amerikanische Politik des 19. Jahrhunderts. Sam schickte ihr Bücher und Artikel. Er lud sie ein, einen Aufsatz für eine Podiumsdiskussion einzureichen, die er bei einer Tagung leiten sollte. Der Aufsatz erwies sich als überragend; Sam empfand ihn sogar als genial.
Als er sie bei der Tagung persönlich kennenlernte – eher in der Rolle der Kollegin nun als der Studentin –, war er hingerissen von ihr. Sie war groß und rothaarig, der absolute Gegentyp zu seiner Frau, und obwohl nicht schön im klassischen Sinn, doch von einer Apartheit, die ihn aufs Intensivste ansprach. Sie interessierte sich für genau dieselbe kleine Nische im menschlichen Gesamtwissen wie er, sie bewunderte diejenigen Aspekte seines Geistes, die zu verstehen seine Frau nicht einmal vorgab. Beide erkannten sie im anderen Stärken, für die sonst niemand Sinn hatte. Die Frau hatte gerade eine Verlobung gelöst. Und Sam …
»Wozu drumherumreden«, sagte Sam. »Deine Mutter und ich, wir waren …«
»Waren was?«, fragte Mark heiser.
»In einer Krise. Sie ging völlig in ihrer Mutterrolle auf, und ich war viel von zu Hause weg. Sie wollte noch mehr Kinder und ich nicht.«
Davon hatte Mark nichts geahnt. Als Kind hatte er seine Mutter hundertmal gefragt, warum er keine Geschwister habe. Ach, Herzchen, hatte sie dann immer gesagt, du bist mehr als genug für uns.
Sam erzählte weiter. Seine Arbeit beanspruchte alle Zeit, die er hatte, und eigentlich noch mehr. Er wurde sich immer stärker über die Tragweite der Verpflichtungen im Klaren, die er eingegangen war. Seine Ehe und sein Beruf: bis dass der Tod ihn von beidem scheiden würde. Und beides gestaltete sich weitaus schwieriger und anstrengender, als er sich je hatte träumen lassen.
Bei aller Bestürzung war Mark fasziniert von den Parallelen zwischen Sams Geschichte und seiner eigenen – seinen Gefühlen gegenüber Chloe in dem schwierigen Jahr vor Brendans Tod. Er hatte sie fast nicht mehr zu Gesicht bekommen, und wenn doch, dann hatten sie ausschließlich über Brendan geredet, über Rechnungen, Zeitpläne, Termine. Sein beruflicher Ehrgeiz brachte ihn nicht weiter. Er arbeitete härter als je zuvor, freute sich aber auf nichts mehr.
Sam hatte sich immer häufiger mit der Frau zu schreiben begonnen. Aus Briefen wurden Telefonate. Dann fing sie an, ihn im Büro zu besuchen – sie hatte Verwandtschaft in Indianapolis, es gab Gründe genug für sie hinzufahren und dann auf ein Schwätzchen bei ihm vorbeizuschauen. Sie führten lange Gespräche über ihre Doktorarbeit, über sein Buch. Sie gaben einander Kapitel zu lesen und kommentierten sie. Einmal fragte Sam sie, ob sie ihn gern als externen Prüfer hätte, und sie wurde rot.
Ich glaube, dafür stehen wir uns zu nahe, sagte sie. Ich will keine Angst vor dir haben müssen.
Sam war überrascht, widersprach aber nicht.
»Und dann, eines Tages«, sagte Sam, »überraschte sie mich noch mehr. Sie erschien nach meiner letzten Stunde in meinem Büro und eröffnete mir ohne langes Gefackel, dass sie mich liebte.«
Sie saß in dem Plüschsessel vor seinem Schreibtisch und sagte, sie wisse, dass er verheiratet sei, und nehme an, er sei glücklich in seiner Ehe. Sie rechne nicht mit der Reaktion, die sie sich am meisten wünschte. Aber, sagte sie, sie könne es nicht totschweigen, und sie hoffe, dafür habe er Verständnis. Sie sei bereit, ihn nie wiederzusehen.
»Sie setzte alles aufs Spiel, um mir das zu sagen«, sagte Sam. »Ich hätte ihr beruflich alle möglichen Steine in den Weg legen können. Ich hätte ihr sagen können – und sagen sollen –, dass ich sie nicht mehr sehen wollte. Aber was sie mit ihrem Geständnis gewagt hatte …« Er starrte auf die Kühlschranktür wie auf einen Fernsehbildschirm. »Als ich an diesem Morgen zur Arbeit gefahren war, hätte ich noch behauptet, glücklich verheiratet zu sein. Ich hätte keinerlei Langeweile oder Spannungen eingestanden. Aber dann saß sie da und sagte mir all das, und ich war machtlos …« Er brach ab, hob die Hand ein Stück. »Ich war mir sicher, dass ich machtlos dagegen war.«
Sam sparte sich die Einzelheiten, doch Mark konnte sie
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