An einem Tag im Januar
das Rollo beiseite und blickte hinaus auf die Straße. Die Pflastersteine unter ihrer spärlichen Neuschneeschicht glänzten silbrig im Licht der Straßenlaterne; wie die Schuppen einer riesigen Schlange sahen sie aus.
Jacob log. Davon war Mark mittlerweile überzeugt. In nur einem Tag war er misstrauisch gegenüber allem geworden, was hier geschehen sollte, allem, für das er so viel aufgegeben hatte. Chloe hatte recht – sein Vater funkte dazwischen. Allie funkte dazwischen. Und auch sein altes Ich.
Aber er misstraute sogar seinem Misstrauen. Wie schnell es gekommen war, wie leicht. Hier in diesem Zimmer und in Chloes Wohnung war er erfüllt gewesen von Zuversicht, von einem Glück und einer Tatkraft, wie er sie nicht mehr empfunden hatte seit …
Seit seiner allerersten Zeit mit Chloe.
Chloe spielte kein Spiel mit ihm, sie versuchte nicht, ihn zu benutzen. Da täuschte Sam sich; es war undenkbar. Chloe glaubte aus ganzer Seele an Brendan, an das, was heute Abend hier geschehen sollte. Sie hatte sich Mark neu geschenkt. Sie legte ihre Zukunft in seine Hände.
All das war nur passiert, weil sie glaubte, dass Brendan hier war. Weil Mark ihr zwei Tage lang beteuert hatte, dass er es auch glaubte.
Was für eine Rolle spielte es also, wenn Brendan vielleicht doch nicht hier war? Wenn sie sich beide, jeder auf seine Art, das Ganze nur eingeredet hatten? Solange Mark nichts sagte, solange er die Séance stattfinden ließ und seinen Part dabei übernahm – wem schadete er damit? War es nicht fünftausend Dollar oder auch noch mehr wert, wenn die Weills Chloe ihren Frieden zurückgaben?
Wenn Chloe dadurch bei ihm blieb? Wenn sie beide endlich noch eine Chance bekamen?
Draußen ein Geräusch: Bremsenknirschen, ein Motor, der abgeschaltet wurde. Er spähte durch die Scheibe und sah einen schwarzen Geländewagen gleich vor seinem Volvo parken. Die Fahrertür ging auf, und zum Vorschein kam Warren Weill im schwarzen Mantel. Er schlurfte vorsichtig über das Eis, um die Beifahrertür zu öffnen und Trudy herauszuhelfen. Auch sie trug einen schwarzen Mantel und darunter einen langen schwarzen Rock.
Seltsam eigentlich, dachte Mark: Sie waren alle gekleidet wie zu einer Beerdigung.
Er ließ das Rollo fallen. Er sollte wohl langsam nach unten gehen, sich wieder bei den anderen blicken lassen. Seine Rolle spielen. Gedämpft drangen die Ausrufe zu ihm herauf, mit denen Connie die Weills begrüßte. Er schloss die Augen.
Brendan.
Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich brauche ein Zeichen. Ich brauche dich.
Mark beschwor das Glück herauf, das er neulich nachts empfunden hatte. Das ihn so jäh erfüllt hatte bis zum Bersten. Dieses Lachen, das ihn wie besessen den Gang entlang zur Treppe hatte stürzen lassen, Brendan und seinen trappelnden Füßen nach. Er war so glücklich gewesen. So voller Liebe.
Er war sich so sicher gewesen, so ganz und gar sicher, dass er nur die Arme auszustrecken brauchte, um den mageren, zappelnden Körper seines Sohnes zu berühren.
Jetzt dachte er: Unmittelbar, bevor er Brendan lachen gehört hatte – bevor er Brendans Schritte gehört hatte –, hatte er die Arme ausgestreckt und in leere Luft gefasst.
Brendan! Bitte!
Von unten Chloes Stimme: »Mark! Die Weills sind da!«
Den Tränen nahe stand Mark auf und rückte den Stuhl wieder an den Tisch. Die Gumminoppen unter den Stuhlbeinen scharrten laut über den polierten Holzboden.
Und dann hörte er es. Die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf.
Das Trappeln von Füßen, draußen im Flur.
»Brendan?«
Er ging um den Tisch und zur Tür.
Oh Brendan . Bitte.
Er spähte hinaus, zur Treppe vor. Ein Stöhnen kam aus seiner Kehle – denn statt des leeren Flurs, auf dessen Anblick er sich eingestellt hatte, oder vielleicht auch der Gestalt seines Sohns, sah er zwei grüngoldene Punkte: ein Paar glühende Augen, die zu ihm emporstarrten.
Jacobs monströses Katzentier kauerte in der Mitte des Ganges, den dicken Schwanz waagrecht nach hinten gesträubt.
Er setzte den Fuß über die Schwelle. Augenblicklich machte die Katze kehrt und lief vor ihm davon, um die Ecke und die Treppe hinab.
Mark hörte das schnelle, weiche Trippeln ihrer Pfoten auf jeder Stufe.
ACHTUNDZWANZIG
Etwas stieg in ihm hoch, als er nun selber nach unten ging, Schluchzen oder hysterisches Lachen oder vielleicht beides; er musste sich die Hand vor den Mund pressen. Die Stimme einer Frau – Trudy Weills – wurde mit jedem seiner Schritte lauter, und als er das
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