An einem Tag im Januar
Sohn, ein Gliederhaufen auf dem Treppenabsatz. Mark neben ihn gekauert, sein Nein, Nein, Nein in dem engen Schacht widerhallend, während er auf den Notarzt wartete und nicht einmal Brendans Kopf in seinen Schoß zu betten wagte, weil der Hals einen so merkwürdigen Winkel bildete. Nur seine warme, nach oben gewendete Handfläche berührte er.
Nein. Nicht dieses Bild.
Besser so: Brendan, der ihm am Esstisch gegenübersaß, zwischen ihnen das Schachbrett aus schönem, hartem Holz, die Figuren mit ihrem satten Schokoladenglanz. Mark erklärte Brendan die Züge, sie spielten eine Übungspartie, und ab da zog Brendan ohne fremde Hilfe.
Brendan ging das Schachspiel an, wie er jedes Problem anging – sein Gesicht furchtsam und ungeheuer konzentriert. Und während er auf das Brett hinunterstarrte, den Blick zwischen den Figuren hin und her schnellen ließ, beobachtete Mark ihn.
Brendans Haar war braun gewesen, ein stumpfes Schlammbraun irgendwo in der undefinierten Mitte zwischen Marks Dunkelbraun und Chloes Goldblond. Sein Gesicht ein langes Oval mit erstaunlich spitzem Kinn. Die Lippen voll und leicht geöffnet. Die Haut der Wangen blass genug, dass die Adern darunter vorschimmerten, was ihm (wie allen Kindern, obwohl es Mark bei Jungen stets aufs Neue überraschte) etwas Zerbrechliches und zugleich auch Flüchtiges verlieh – als könnte, wenn er mit dem Finger über Brendans Wange strich, die Haut daran haften bleiben wie der Staub eines Schmetterlingsflügels.
Brendans Augen ein tiefes Meerblau (genau wie Chloes), schmal und länglich – einen Tick länger noch, und sie hätten asiatisch angemutet. Die Nase lang und schmal, der Mund eher klein. Ein vornehmes Gesicht, hatte Mark oft gefunden – darin schlug er mehr nach Sam als nach ihm; wenn Brendan einmal vierzig wäre, hatte Mark oft gedacht, dann würde er das gleiche schüttere Haar und die gleiche hohe Gelehrtenstirn bekommen wie sein Großvater. Sam hatte das auch gesehen – er und Brendan hatten in diesem letzten Jahr begonnen, einander mit »Professor Fife« anzusprechen und dazu ernst zu nicken, unermüdlich, so als würden sie sich immer von Neuem auf dem Gang vor ihren Büros begegnen, bis Brendan irgendwann doch nicht mehr konnte und losprustete.
Brendans Blick, der über das Schachbrett glitt. Die Augenbrauen leicht zusammengezogen, die Unterlippe vorgestülpt. Winzige ebenmäßige Zähne.
Bis er zuletzt stirnrunzelnd aufsah. Und sagte: Dad, ich glaube, ich bin kein Schachwunderkind. Mark hatte nicht gewusst, ob er lachen oder weinen sollte.
Dieses Gesicht.
Mark öffnete die Augen und begann zu zeichnen. Er versuchte, nicht abzusetzen, nicht seine Erinnerung zu konsultieren. Darum ging es schließlich nicht, oder? Nein. Es ging darum, ein Bild aus dem Gedächtnis beschworen zu haben, das echt war. Damit Brendan kein schwarzes Loch in seinem Innern wurde. Kein Schatten in einem dunklen Zimmer.
Vierzig Minuten später hatte er das Gefühl, fertig zu sein. Er riss den Blick von den Einzelheiten los und betrachtete die Zeichnung als Ganzes. Und da war Brendan, wie er von seinem Spiel aufschaute, zum Sprechen ansetzte.
Mark drehte sich auf seinem Stuhl wieder zum Stahlschrank hin. Ein dicker Stoß in der untersten Schublade bündelte die Zeichnungen, die er vor Brendans Tod von ihm gemacht hatte. Aber ein kleinerer Stapel, der in einem Aktendeckel obenauf lag, enthielt all die Bilder seitdem.
Er hatte mit diesem Ritual erst zwei Jahre nach dem Unglück begonnen. An Brendans erstem Geburtstag danach hatte ihn Chloe gerade verlassen; Mark hatte bei seinem Vater gewohnt, mehr tot als lebendig. An dem zweiten Geburtstag war er mit einer Studentin zusammen, einer Doktorandin mit dem unerotischen Namen Harriet Martin. Sie hatten den Abend des 18. Dezember bei einer Anti-Kriegs-Kundgebung auf dem Campus verbracht – Marks Idee. 2002 war das gewesen, er hatte etliche Monate der Therapie hinter sich, und seine wachsende Empörung über die Bush-Regierung hatte ein Übriges getan, um ihn aus seiner langen Zeit der Stumpfheit aufzurütteln.
An diesem Abend gab er sich alle Mühe, am Leben zu sein, aktiv zu sein – aber im Lauf der Kundgebung schweiften seine Gedanken immer öfter zu Brendan; vielleicht, dachte er, war es besser, dass sein kleiner Sohn eine solche Zukunft nicht erleben musste. Als sie wieder in Harriets Wohnung waren, wurden die Schuldgefühle, die im Kielwasser dieses Gedankens auf ihn einströmten, übermächtig. Er floh, ohne sich
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