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An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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groß zu entschuldigen, hinterließ Chloe – die zu der Zeit den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte – eine Nachricht, für die er sich später schämte, und saß danach Stunden wach, um auf einen Anruf zu warten, der nie kam. Irgendwann in dieser langen Nacht befiel ihn plötzlich eine bohrende, unbändige Angst: Wusste er überhaupt noch, wie sein Sohn ausgesehen hatte?
    Jetzt legte Mark die Zeichnung, die in jener Nacht entstanden war, und die vier von den darauffolgenden Geburtstagen nebeneinander auf dem Zeichentisch aus. Zuunterst in dem Stapel lag ein Schnappschuss von Brendan an seinem siebten Geburtstag, auf dem er von einem Buch in die Kamera hochsah. Sein Gesicht wurde zu den Rändern hin unscharf, aber es war dennoch ein Bild, das ihn einfing, wie er war, offen, unverstellt. Sechs Brendans nun also: einer echt, die anderen Echos.
    Viel hatte sich nicht verändert in dieser neuesten Skizze. Brendans Nasenrücken schien schmaler geworden, aber da mochte ihm einfach der Stift ausgerutscht, die Schattierung zu dick geraten sein. Die Augen waren zu lang. Doch von diesen kleinen Mängeln abgesehen konnte Mark auf das Blatt schauen und seinen Sohn erkennen.
    Er blätterte die Skizzen durch, dann noch einmal, schneller. Es waren jetzt genug für ein Daumenkino; die Seiten schlugen um, und Brendans Ausdruck veränderte sich, die Augen öffneten sich weiter, als hätte er sich erschreckt.
    Mark legte die neue Zeichnung auf die anderen und packte sie alle in die Schublade zurück.

SIEBEN
    Am nächsten Abend fuhr Mark nach Dublin – Chloes Viertel am nördlichen Stadtrand – zu einem libanesischen Restaurant, das sie beide gern mochten. Für Mark bedeutete das in der Stoßzeit eine Dreiviertelstunde Fahrt, aber wenigstens hatte Chloe nicht Steves Lokal in der Innenstadt vorgeschlagen.
    Vor dem Aufbruch hatte Mark eine Weile vor seinem Kleiderschrank gestanden. Was zog man an, wenn man mit solchen Neuigkeiten kam wie er jetzt? Er entschied sich für eine khakifarbene Hose, ein schwarzes Hemd, ein Sakko – Kleider, wie er sie während ihrer Ehe nie getragen hatte.
    So weit war es mit Chloe und ihm gekommen: Sie machten sich füreinander schick.
    Auf der Fahrt sah er Chloe vor sich, wie sie an Brendans Grab saß. Sie verbrachte Brendans Geburtstag in der Regel bei ihren Eltern, die eine Stunde nordwestlich von Columbus lebten, und zum Abschluss besuchte sie mit ihrer Mutter den Friedhof auf dem Hügel über Marysville, wo drei Generationen ihrer Familie begraben lagen, und legte Blumen auf Brendans Grabstein. In den ersten Jahren war Mark mit ihr gegangen, selbst nach der Scheidung noch, aber jetzt nicht mehr. Das Grab bedeutete ihm viel weniger als seine Skizzen, seine Essen mit Chloe. Das hatte er ihr einmal auch gesagt: Ich spüre ihn da einfach nicht.
    Und auch das hatte er gesagt: Ich trauere so, wie es verdammt noch mal mir passt.
    Trotzdem stand ihm nun Chloe vor Augen, wie sie zitternd vor Kälte im Schnee kniete und murmelnd – er wusste, dass sie das tat – zu ihrem Sohn sprach. Er sah das Bild überdeutlich, und es schnitt ihm ins Herz.
    Und dann, obwohl er sich dagegen wehrte, sah er Brendan in ihrem alten Haus vor sich, wie er auf Connie Pelhams Sohn herunterblickte.
    Den ganzen Nachmittag hatte Mark nach einer plausiblen Ausrede gesucht, um die Verabredung abzusagen, aber ihm war keine eingefallen. Trotz seiner Woche Vorlauf wusste er immer noch nicht, wie er es zur Sprache bringen sollte – die Verlobung, Connie Pelham. Auch nach zehn Jahren Ehe und sechs Jahren Getrenntsein konnte er Chloes Reaktion nicht einschätzen, auf das eine so wenig wie auf das andere.
    Dennoch freute Mark sich darauf, sie zu sehen, ihr am Tisch gegenüberzusitzen. Ja, sie hatte ihn grausam behandelt während und nach der Scheidung, ja, er hatte jetzt Allison – aber trotzdem fehlte sie ihm. Er machte sich da nichts mehr vor: Er würde bis ans Ende seiner Tage Anteil nehmen an ihrem Leben, ihren Stürmen, ihrem sporadischen Glück. Aber Chloe brauchte ihn ja genauso. Über ein Jahr hatten sie jeden Kontakt vermieden – und am Ende aufgegeben. Sie waren verbunden durch ein Jahrzehnt, durch Brendan, durch ihre Trauer um ihn. Niemand sonst auf der Welt hatte ihn gekannt, wie sie ihn gekannt hatte; niemand sonst konnte auf dieses schwache Unterwassersignal, das er aussandte, antworten.
    Chloe verspätete sich. Mark ging im Vorraum auf und ab, zu nervös, um sich auf eine der Bänke zu setzen. Das Handy in seiner Tasche

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