An einem Tag im Januar
Allison war auch sie neuerdings eine Weinkennerin, dank Steve und seinem teuren Restaurant mit dem verdammt noch mal besten Keller in ganz Ohio –, und dann, als der Kellner weg war, starrte sie angestrengt auf die Speisekarte.
»Irgendwas stimmt nicht«, sagte er.
Ihre blassen Wimpern zuckten. Vor drei Jahren hätte sie ihn wahrscheinlich angefaucht: Außer dass unser Sohn tot ist, meinst du? Jetzt schüttelte sie nur den Kopf. »Was soll ich darum herumreden? Steve ist weg. Er – zwischen uns ist es aus.«
»Chloe«, sagte er. »Mein Gott. Das tut mir leid.«
Eine glatte Lüge. Kein bisschen leid tat es ihm. Mark hatte Steve vom ersten Augenblick an gehasst. Steve war aus New York und schien sein ganzes Dasein der Aufgabe geweiht zu haben, das Klischee vom New Yorker zu bedienen, der in einem Kuhdorf gestrandet ist; er verfluchte die Provinzler und tat im gleichen Atemzug so, als stünde ganz Columbus Schlange vor seinem schicken kleinen Bistro, das überflüssigerweise auch noch Gotham hieß. Mark und Allison hatten dort mit Chloe und Steve zu Abend gegessen – das war das letzte Mal gewesen, dass er und Chloe sich gesehen hatten, und er hatte lange gerätselt, wie sie auf eine solche Schnapsidee hatten kommen können. Steve – groß und breit, mit Stiernacken und zu vielen, zu weißen Zähnen – hatte keinen Augenblick still gesessen, ständig war er aufgesprungen, um Stammgästen die Hand zu schütteln, die Gerichte zu inspizieren, die aus der Küche kamen, und ihnen zu versichern, dass er einen Tropfen gebunkert habe, der alles auf der Weinkarte übertraf. Er bestellte für Mark und Allie – ihr sollt doch das Beste kriegen, selbstverständlich aufs Haus! Und dabei hatte er Chloe seinen schweren Arm um die Schulter gelegt, eine Geste, die klarstellte: Aber das Sahnehäubchen bleibt für mich.
Wie in aller Welt, hatte Mark gedacht, konnte Chloe sie beide geliebt haben? War es Selbstgefälligkeit oder Selbstquälerei von ihm zu glauben, dass sie bewusst den Antitypen zu ihm gewählt hatte? Hatte er es bei Allison ähnlich gemacht?
Egal. Steve war weg, Steve war weg.
»Möchtest du darüber reden?«, fragte er. »Oder soll ich so tun, als hättest du nichts gesagt?«
Chloe schüttelte erneut den Kopf, im Zweifel weniger als Antwort auf seine Frage, als um die Tränen zurückzuhalten. Er konnte ihr ansehen, wie sehr sie sich danach sehnte zu reden, sich fallen zu lassen – aber nicht vor ihm.
»Geht schon«, sagte sie.
Er konnte es sich nicht verkneifen. »Wie kam das so plötzlich?«
»Es hat sich schon länger angebahnt«, sagte sie mit dünner Stimme.
»Hat er …?«
Chloe presste die Lippen zusammen. »Die Kurzfassung ist, dass ich nie jüdisch sein werde und dass ich ein schlechter Mensch bin, weil ich um Brendan trauere.« In den Adern an ihrem Hals pochte es. »Er hat gesagt, er kann sich nicht sicher genug sein, was für eine Mutter ich abgeben würde.«
Chloe und Steve kannten sich durch Chloes Schule; sie hatte Steves kleine Tochter in ihrer Klasse gehabt. Chloe liebte das Mädchen – Marks Theorie war schon immer gewesen, dass sie das Kind viel mehr liebte als den Mann. Chloe keine gute Mutter? Er wünschte, er würde an die Hölle glauben, um Steve in ihr schmoren lassen zu können.
»Es tut mir leid«, sagte er, aus vollem Herzen diesmal.
Chloes Augen schimmerten feucht; wahrscheinlich sah sie kein Wort auf der Speisekarte. Und da sollte er ihr von Allie erzählen? Von Connie Pelham?
»Du hättest heute Abend nicht zu kommen brauchen«, sagte er.
»Ich bin neununddreißig«, sagte sie. »Ich würde gern denken können, dass ich über das Alter hinaus bin, wo wegen einem Mann die Welt zerbricht.«
Er suchte nach versteckter Kritik hinter diesen Worten, fand alles und nichts.
»Also hör mal«, sagte er. »Es ist völlig legitim, auch wegen was anderem traurig zu sein.«
Einer von Gayles Sprüchen vermutlich. Er hasste es, wenn er diese Therapeutenweisheiten nachplapperte, noch dazu bei Chloe, die sie bestimmt in- und auswendig kannte.
Der Ober kam zurück. Mark bestellte etwas Lammiges mit viel Öl und dazu einen Salat und Eistee – lieber wäre ihm ein Glas Wein gewesen, aber jetzt kehrte er bei Chloe schon so lange den Abstinenzler hervor … Chloe bestellte Salat mit so wenig Falafel, wie die Küche ihr durchgehen ließ, und einen Martini. Er dachte die Worte, bevor sie sie sagte: dirty, zwei Oliven. Sie lächelte den Ober an. Selbst in ihrer jetzigen Verfassung
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