An einem Tag im Januar
dieses Lebens hatte sich in weiten Teilen dort abgespielt, darum mied er es gewöhnlich. Gerade heute Abend war es der denkbar schlechteste Ort für ihn, aber dennoch fuhr er nun auf der High Street nordwärts, in die Innenstadt hinein und wieder heraus und über die 670er Überführung, und die Silhouetten der Backsteinbauten zu beiden Seiten nahmen eine immer schmerzhaftere Vertrautheit an.
In seinen Studientagen war das Viertel ein Slum gewesen, aber während Chloes und seiner Zeit hier hatte es sich in fast beängstigender Weise herausgemacht. Jetzt reihten sich über eine Meile hinweg trendige Bars, Galerien und Buchläden aneinander und dazu die Sorte Restaurants, in die es zwei gutsituierte Berufstätige in seinem und Allies Alter häufiger verschlug, als ihm lieb war. Wenn er und Allison hierherkamen, bat er – so verrückt es auch war – meist Allie zu fahren und hielt den Blick derweil auf Neutrales, Unverfängliches konzentriert; andernfalls sah er vor seinem inneren Auge nur wieder sich und Chloe und Brendan die Straßen entlangwandern wie früher … hier und da in Geschäfte gehen … auf einer der schmiedeeisernen Bänke ein Eis essen …
Bögen aus geflochtenen Lichterketten überspannten die Straßen, um die Laternenpfähle wanden sich Stechpalmenkränze aus Plastik. Auf den Gehsteigen drängten sich hippe junge Leute in teuren Mänteln, Horden von Studenten, die über die Feiertage nicht heimgefahren waren. Zwei Eltern zu seiner Rechten führten einen kleinen Buben zwischen sich, der an ihren Händen schaukelte wie ein Äffchen.
Waren Connie Pelham und ihr Sohn auch irgendwo hier unterwegs? Marks Herz klopfte bis zum Hals, als er den Wagen rückwärts in eine Parklücke bugsierte – als müsste, wenn er wieder nach vorn schaute, Connies Gesicht in der Windschutzscheibe auftauchen.
Die Kneipe, die Lew ausgesucht hatte, war schummrig, schlauchartig, mit Ziegelwänden, poliertem Holz, Handläufen aus Messing. Mark fühlte sich sofort wohl. Die Schickis hatten sichtlich noch nicht hergefunden, und die Jukebox spielte Tim Easton. Parallel zum Tresen zog sich eine Reihe von Nischen mit hochlehnigen Holzbänken, und Mark setzte sich in die hinterste, neben die Schwingtür zur Küche. Nach nur kurzem Zögern bestellte er ein Bier – ein Guinness, wie lang war das her? – und tat so, als würde er den Sportmoderatoren auf dem letzten der Fernsehbildschirme zuhören, die in einer Reihe hinterm Tresen hingen.
Kein Grund zur Sorge, sagte er sich. Er konnte Lewis seine Geschichte erzählen, und Lew würde ihn ernst nehmen, egal, was er ihm sagte. Selbst damals, in Marks allerverzweifeltster Zeit, hatte Lew nie auch nur im Ansatz den Finger erhoben, ihm vorzuschreiben versucht, wie er zu trauern hatte. Also würde Mark heute Abend einfach am Anfang anfangen: sich für sein langes Schweigen entschuldigen und ihm dann berichten, was passiert war. Und Lew würde ihm sagen …
Er wusste nicht, was Lew ihm sagen würde. Welchen Rat konnte Lew – oder irgendein Mensch – ihm geben?
Lew würde Marks Partei ergreifen. Er würde empört sein über Connie Pelham. Deshalb war Mark doch hier, oder? Um bestätigt zu bekommen, dass er nicht allein war. Dass Conny die Verrückte war und nicht er. Ja – aber die ganze Zeit, während er dem Spiel zusah, sein Bier austrank, noch eins bestellte, quälte ihn ein ungutes Gefühl, das er nicht recht benennen konnte.
Lew kam um kurz vor sechs in die Bar, ein Koloss in seinem Mantel und der schwarzen Rollmütze. Mark war noch bei seinem zweiten Bier. Er merkte, wie er rot wurde, als er die Richtung von Lews Blick sah. Alles an seinem Leben erschien ihm plötzlich angreifbar.
»Ein Guinness, so, so«, sagte Lewis, als er den Tisch erreichte. »Wie kommt’s?«
»Alles im Griff«, sagte Mark. Aber es klang nach typischer Säuferausrede – er fühlte sich ertappt wie bei einer Prüfung, auf die er nicht gelernt hatte.
Lew zog den Mantel aus und zwängte sich in die Bank. »Wenn du wieder trinkst, dann lass mich wenigstens mittrinken. Wo bleibt sonst der Spaß?«
Mark atmete aus, lächelte verlegen. Er hatte recht gehabt – Lew würde ihn nicht verurteilen, das lag nicht in seiner Natur. Die Bedienung kam vorbei, und Lew sagte: »Noch so eins, bitte.«
Lew ließ sein Haar wieder wachsen. In den Stoppeln auf seinem Kopf war ebenso viel Grau wie Blond. Er wirkte mit einem Mal alt dadurch. Er wühlte in der Hosentasche und brachte einen usb -Stick zum Vorschein, den er
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