Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
Vom Netzwerk:
zusammenschauerte vor Spannung.
    Die Geschichte, soweit Mark sich erinnerte, ging so: Als Sechzehnjähriger war Lew mit einem Cousin in Montana zelten gewesen. Sie hatten ihr Zelt in einer verlassenen, dachlosen Hütte irgendwo im Bergwald aufgeschlagen, und mitten in der Nacht war Lew aufgewacht – von einem seltsamen Gefühl, sagte er, fast einer Art Befehl – und hatte durch den Eingang des Zelts eine Gestalt an der Rückwand der Hütte kauern sehen: einen bärtigen alten Mann, der die Hände gegeneinanderrieb, sein Gesicht trüb von unten erleuchtet wie von einem Lagerfeuer. Der Mann warf einen raschen Blick in ihre Richtung, öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, und war verschwunden.
    Lews Cousin war auch wach geworden und hatte dasselbe gesehen wie er. Dadurch wussten sie, dass es keine Einbildung war. Als er und der Cousin ihre Beobachtungen verglichen, war klar, dass sie exakt dieselben Dinge gesehen hatten. Der Mann trug ein rotes Flanellhemd. Er hatte einen Goldzahn. In seinem Haar, gleich über dem rechten Ohr, steckte eine Feder. Der Feuerschein glomm in seinen Augen.
    Lews Cousin fand später heraus, dass hundert Jahre vorher in der Gegend ein Trapper verschollen war. Der Trapper war entweder erfroren oder von Wölfen gefressen worden – irgendein grusliger Tod jedenfalls –, und Mark und sein Cousin waren nicht die Ersten, die ihn gesehen haben wollten, wie er da kauerte und die Hände über seinem nicht existenten Feuer rieb.
    Ist das dein Ernst?, hatte Chloe Lew mit einem neuerlichen Schauder gefragt.
    Mark hatte erwartet, dass Lew spätestens jetzt laut loslachen und endlich mit der Pointe herüberkommen würde. Aber Lew hatte mit leiser, ernsthafter Stimme geantwortet: Chloe, ich würde jeden Eid drauf schwören. Ohne Scheiß.
    Wie lange hatte er jetzt nicht mehr an die Geschichte gedacht? Fünfzehn Jahre? An jede andere Abartigkeit – wenn Lew Methodist gewesen wäre, egal was – hätte Mark sich garantiert erinnert. Aber nicht an Lews verdammten Geist.
    Lew fing an, seine Geschichte neu zu erzählen, aber Mark unterbrach ihn. »Ich erinnere mich. Und du denkst immer noch …?«
    »Ja«, sagte Lew ruhig. »Ich weiß, was ich gesehen habe.«
    »Verdammt, Lew, ich kann nicht …«
    »Willst du, dass ich den Mund halte?«, fragte Lew. Es war ihm ernst mit der Frage. »Sag mir, was du von mir hören willst, und ich sag’s.«
    Noch ehe Mark ihm sagen konnte: Ich will hören, dass es alles Schwachsinn ist , sprach er weiter: »Okay, vergiss, was ich gesagt habe. Aber ich kenn dich doch, Mann. Dir macht nicht nur das mit Chloe Sorgen. Die ganze Sache nagt an dir.«
    Mark schüttelte den Kopf.
    »Schau her«, sagte Lew. »Ich frag dich jetzt was. Du kannst mich damit zum Teufel schicken, wenn du willst. Aber ich frage es deshalb, weil ich glaube, dass du es dich fragst. Was ist, wenn es keine hundert Prozent sind? Was ist, wenn du dir nur zu neunundneunzig Prozent sicher bist?« Er hielt die Hand hoch. »Nein, hör mir zu. Ich frage das, weil ich Brendan geliebt habe. Das weißt du, oder?«
    Wut schoss in Mark hoch, brennend, überwältigend. »Das heißt, wenn ich nicht sofort hinrenne, bin ich ein schlechter Vater? Willst du mir das sagen?«
    Lews Züge verdüsterten sich. »Traust du mir das ernsthaft zu?«
    Mark konnte nicht antworten.
    »Ich sage lediglich: Wenn du in irgendeiner Weise in Betracht ziehst, dass an der Sache was dran ist, und sei es nur zu einem Prozent – solltest du dann nicht hingehen und dich selbst überzeugen?«
    Mark schüttelte den Kopf.
    »Denn wenn ich dich so ansehe, denke ich eher, dass du nur zu neunundneunzig Prozent sicher bist.«
    »Nein«, sagte Mark heiser.
    Lew fuhr sich mit der Hand über den Schädel. Sein graues Haar glänzte wie ein Fell. »Mann, wenn es nur neunundneunzig Prozent sind – mir kannst du’s sagen. Mir kannst du’s immer sagen. Das weißt du.«
    Mark fühlte sich der Panik nahe. Das war nicht, worauf er gehofft hatte, nicht, was er brauchte. Trotz seiner schlaflosen Nächte, trotz seiner Suche im Internet. Trotz des schmerzhaften Klumpens, den Brendans Name in seiner Kehle bildete.
    »Schau mal.« Lew beugte sich zu ihm vor. »Ich weiß, ich kann da nicht mitreden. Ich habe keine Ahnung, wie …«
    »Ganz genau.«
    »Ja. Aber ich habe gesehen, was du durchgemacht hast – wie du dich zerfleischt hast. Wegen Brendan, wegen Chloe. Ich weiß, wie du dich quälen kannst. Und du doch eigentlich auch. Ich sehe es dir doch an, Mark.«
    »Das

Weitere Kostenlose Bücher