An einem Tag im Januar
heruntergeladen hatte, lauten, aggressiven Klängen, die seine Gedanken zu Brei stampften. Sein Handy zirpte – wahrscheinlich Allie –, aber er ließ die Mailbox übernehmen und schaltete es dann aus. Die Stadt wischte vorbei. Es begann zu nieseln.
Er versuchte jeden Gedanken an den Brief zu verbannen, ohne Erfolg.
Chloe bat ihn um Verzeihung. Wenn der Brief nichts anderes enthalten hätte als das, hätte er sie auf der Stelle angerufen. In den sechs Jahren seit ihrer Trennung hatte sie nie etwas Dahingehendes gesagt oder auch nur als Möglichkeit angedeutet. Er hätte heulen mögen. Die Chloe, mit der Du verheiratet warst …
Aber der Brief enthielt mehr als das. Viel mehr.
Unser Sohn ist hier.
Seine Frau und sein Sohn, von den Toten zurück?
Einem Impuls folgend bog er vom Ring auf die 670 und ließ die glitzernden Lichter der Innenstadt südwärts liegen. Er fuhr jetzt in Richtung Victorian Village, obwohl er sich seit dem Aufbruch wohl hundertmal geschworen hatte, es nicht zu tun.
Nicht, sagte er sich. Nicht. Doch sein Platz am Steuer war von einem anderen Mark usurpiert.
Er verließ die 670. Zu seiner Rechten, auf einer dunklen Anhöhe, war derselbe Goodale Park, von dem Chloe in ihrem Brief sprach. Wo sie – wie eine Generalprobe erschien es nun – Brendan im Sommer vor seinem Tod ein paar grausame Augenblicke lang schon verloren geglaubt hatten. Mark brauchte Chloes Brief nicht, um sich an dieses Gefühl zu erinnern. Noch heute suchte es ihn in seinen Träumen heim: Brendan mit einem Mal verschwunden, und ein Meer von zweihundert Kindern um sie. Die Luft ein Gebrodel von Gelächter und Geplärre. Marks eigene Rufe unhörbar in dem Radau. Chloes Gesicht so fahl wie der Tod. Sie hatten ihn rasch wiedergefunden; Brendan war die ganze Zeit nur wenige Schritte weit weg gewesen, neben einem Paar Beinen, die er für die seines Vaters gehalten hatte. Aber bevor er wieder auftauchte, hatte Chloe Mark ins Gesicht gestarrt – und Monate vor dem Unfall, der ihren Sohn das Leben kostete, hatte Mark gewusst: Falls sie Brendan je wirklich verloren, würde das Loch, das sein Verschwinden ins Universum riss, Chloe gleich mit hinaussaugen. Wie es dann auch geschehen war.
Aber angenommen, Brendan war zurückgekehrt und hatte Chloe mitgebracht?
Undenkbar.
Der Kerl, der in Marks Körper geschlüpft war, bog auf die Neil Avenue ein, und Mark musste mit.
Oder war es umgekehrt?
Bitte glaub mir. Komm, so schnell du kannst.
Unser Sohn ist noch hier.
Sinnlos, sich zu verstecken. Chloe hatte ihn schon immer aus sich herausgeholt, den Angsthasen Mark hinausgelockt in die Welt.
Mark bog in eine Seitenstraße, dann in die nächste – und hier war der heruntergekommene Backsteinbau, in dessen Eingangshalle er nach dieser Party damals Chloe kennengelernt hatte, sie beide fröstelnd und schon im Mantel, während ihre jeweiligen Mitbewohner – Lew und ein Mädchen namens Carly – in einem der oberen Zimmer verschollen waren. Mark hatte nichts getrunken – er hatte sich breitschlagen lassen, Lew heimzufahren –, und normalerweise hätte Nüchternheit in Kombination mit einem hübschen Mädchen ihm nachhaltig die Zunge gelähmt. Aber Chloes Lächeln und die trockene Resigniertheit, mit der sie sagte: Wartest du auf Lew? So ein Großer, Poltriger?, rüttelten ihn auf. Sie war klug, pfiffig. Gelangweilt. Sie verlangte von ihm mehr als ein bloßes Nicken. Nein, Schweigen war keine Alternative.
Ich heiße Mark, sagte er. Chloe hatte nie erfahren, welche Überwindung ihn diese Worte gekostet hatten.
Chloe, sagte sie. Sie gaben sich die Hand und lachten dann über so viel Förmlichkeit. Woher kennst du Lew?, wollte sie wissen.
Ich bin sein Wärter, sagte Mark. Er ist aus seinem Zwinger abgehauen. Tut mir leid.
Wieder lachte Chloe. Und aus diesem Lachen meinte er eine grenzenlose Nettigkeit zu hören. Herzensgüte , hätte seine Mutter gesagt. Chloe sah auf ihre Uhr, dann auf die leere Treppe. Irgendwo aus den Tiefen des Hauses drangen dumpfe Bassrhythmen, Gelächter. Lew war in seinem Element.
Ich schreibe morgen eine Klausur, sagte sie. Wie lange … braucht er denn gewöhnlich so?
Wieder lachten sie beide. Chloes Wangen waren vom Bier gerötet. Ihre Augen glänzend blau. Mark schien es undenkbar, sie zu küssen, im Arm zu halten – aber von diesen Augen kam er nicht los. Er durfte sie nicht einfach gehen lassen. Lew würde sich am nächsten Morgen nicht mal mehr an den Namen ihrer Mitbewohnerin erinnern. Die Uni war
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