An einem Tag im Winter
sie ihn so im Schlaf betrachtete. Marcus Pharoah konnte gut sagen, sie müsse Sebastian für sich selbst einstehen lassen; Marcus Pharoah hatte nicht die Erinnerungen, die sie an Sebastian hatte, wie er um seine Mutter geweint, wie er sich im Waisenhaus ängstlich in sich zurückgezogen, wie er nach dem Nervenzusammenbruch kaum noch gesprochen hatte, nicht einmal mit ihr, wie er sich geweigert hatte, sein Bett zu verlassen. Er wusste nichts von Sebastians groÃem Herzen und seiner Unverfälschtheit, nichts von den Ãngsten, die ihn quälten. Und ebenso wenig wusste er, dass sie Sebastian so dringend brauchte wie er sie, weil er der einzige Mensch war, der sie wirklich kannte und verstand und der sie niemals kritisierte.
India ging in ihr Zimmer. Sie schminkte sich mit Cold Cream ab, bürstete ihre Haare und zog ihren Pyjama an. In der warmen Nacht lag sie in ihrem Bett und dachte an Marcus Pharoahs Antrag. Sie hatte schon früher Heiratsanträge bekommen, einige ernst gemeint, anderer weniger, und sie hatte stets abgelehnt. Pharoahs Antrag nahm sie nicht ernst. Er hatte ihn aus einer Stimmung heraus gemacht, vermutete sie, weil er wütend über seine Scheidung war und weil sein geliebtes Gildersleve Hall auf dem Spiel stand. Er war schlicht und einfach in Rage darüber, dass nicht alles nach seinem Kopf ging. Später würde er seinen Antrag bereuen. Sie bezweifelte, dass er ihn wiederholen würde.
Aber er hatte einen Nerv getroffen, als er gefragt hatte, was sie aus ihrem Leben machen wolle. Sie erinnerte sich, dass Tante Rachel ihr die gleiche Frage gestellt hatte, als sie mit ihr am Küchentisch gesessen und über eine berufliche Ausbildung gesprochen hatte â als Lehrerin vielleicht, an einer Handelsakademie oder in der Krankenpflege. Alles war Zukunftsmusik geblieben, war India schon damals utopisch vorgekommen, obwohl sie Rachel nichts davon gesagt hatte. Seit ihrem Schulabgang hatte sie sich in allen möglichen Tätigkeiten versucht und nie länger als sechs Monate durchgehalten. Sie wusste, dass sie häufig Mühe hatte, sich zu konzentrieren, dass ihre Pünktlichkeit stark zu wünschen übrig lieà und dass sie Fehler machte, wenn sie durcheinanderkam. Wenn man es sich genauer überlegte, war es eine Schande, dass sie es mit ihren dreiundzwanzig Jahren und nach einer teuren Schulausbildung nicht zu mehr gebracht hatte als zur Bedienung in einem billigen Café. Und selbst da machte sie ihre Sache nicht besonders gut.
Weil sie Sicherheit suchte. Um sich sicher fühlen zu können, brauchte man Geld. Wenn Marcus Pharoah behauptete, in finanziellen Nöten zu stecken, wusste er nicht, wovon er redete. Arme Leute speisten nicht im Le Caprice, arme Leute fuhren keine Sportwagen. Eine Heirat mit Marcus Pharoah würde ihr ein anderes Leben ermöglichen, ein besseres Leben. Ein Mädchen wie sie, ein Mädchen, das eher hübsch als klug war, eher lebenslustig als bildungshungrig, konnte durch eine gute Partie viel erreichen. Eine Ehe konnte ihr die ersehnte Sicherheit geben. Sie würde ihr ein Zuhause geben. Und Kinder.
Marcus Pharoah behauptete, sich in sie verliebt zu haben. Die Leute redeten oft von Liebe, wenn sie, so meinte jedenfalls India, in Wirklichkeit von Begierde oder auch von schlichter Zuneigung sprachen. Liebe musste ihrer Meinung nach selbstlos sein. Liebe hieÃ, dass einem der andere wichtiger war als die eigene Person. Rachel hatte sie geliebt und ihretwegen auf vieles verzichtet. Ihre Mutter hatte Sebastian und ihr beteuert, dass sie sie liebte, aber sie hatte nicht gemerkt, wenn sie hungrig waren. Sie hatte von Liebe geredet, während ihre Tochter angefangen hatte zu stehlen und in ihrem Sohn etwas zerbrochen war, vielleicht für immer.
Liebe bedeutete eine gewisse Unbekümmertheit im Umgang mit Gefühlen. Pharoah war der Unbekümmertheit fähig, sonst würde seine Frau sich nicht von ihm scheiden lassen. India misstraute der Liebe und versuchte, sie zu meiden, fürchtete das Chaos und die maÃlosen Forderungen, die damit einhergingen. Menschen, die liebten, Menschen, die verliebt waren, verloren ihren klaren Blick. Sie waren unvorsichtig, sahen die Fallen nicht.
Ich habe mich hoffnungslos in dich verliebt . Er hatte es mit Groll gesagt, als wäre die Liebe eine Krankheit, die er sich, ohne es zu wollen, eingefangen hatte. Ausgerechnet er, Marcus Pharoah, der keinen Tag in seinem Leben krank
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