Ana Veloso
viel gemein.
João Henrique unterbrach die Stille mit einem
kurzen, harten Lachen. »Wisst ihr, was León im > Jornal do Commércio < schreibt? Das ist ja unfassbar! Ich lese es euch vor:
Mit einem ungewöhnlichen Ansinnen erschien am
gestrigen Mittwoch, dem 21. September 1884, ein gewisser Carlos Azevedo in der
Prefeitura von São Paulo: Er, der uneheliche und alleinige Sohn des jüngst
verstorbenen Fazendeiros Luiz Inácio Azevedo, wolle einer Sklavin, die er von
seinem Vater geerbt habe, die Freiheit schenken und dies in den Stadtregistern
eintragen lassen. Der Name der Sklavin sei Maria das Dores. Sie sei seine
Mutter.
Sie staunen, verehrte Leser? Sie wollen nicht
glauben, dass in unserer fortschrittlichen Zeit, in unserem aufstrebenden Land
ein Mann seine Mutter erben kann? Glauben Sie es. Und schämen Sie sich mit mir
unserer schändlichen Gesetzgebung. Solange die skrupellosen Sklavenhalter sich
ungestraft an den farbigen Frauen vergehen dürfen und solange Menschen
als Dinge angesehen werden, die vom Vater an den Sohn weitergereicht werden, so
lange darf Brasilien keinen Anspruch auf > Zivilisation < erheben.
In diesem Fall hatte die Sklavin das Glück,
dass ihr Herr den unehelichen Sohn anerkannt hatte und Letzterer ihr die
Freiheit schenkte. Ebenso gut hätte er sie verkaufen können – und wäre damit
ganz im Rahmen unserer Gesetze geblieben. Ich frage Sie: Was ist das für ein
Land, in dem ein Mann seine eigene Mutter verkaufen darf? Für mich lässt das
nur einen Schluss zu: Die Sklaverei muss abgeschafft werden!«
Aaron und Pedro lachten.
»Ha«, amüsierte sich Aaron, »da hat seine
Fantasie wohl wieder
Kapriolen geschlagen.«
»Wo nimmt er nur immer diese sagenhaften
Geschichten her?«, wunderte sich Pedro. »So etwas kann man sich doch unmöglich
ausdenken. Und er nennt ja sogar Namen, dieses ganze Rührstück muss demnach
belegbar sein.«
»Wir sehen ihn ja bald«, warf João Henrique ein,
»dann kann er uns über die Hintergrunde aufklären.« Damit widmete er sich
wieder seiner Zeitung.
Pedro und Aaron unterhielten sich währenddessen.
Das Wetter, die Politik, die Gesundheit der Prinzessin Isabel, die
Kaffeepreise, die Qualität von Zigarren der Marke »Brasil Imperial«, die
Situation der Schwarzen in Rio, die neueste Mode, im Meer baden zu gehen, und
der Gesichtsausdruck des Schaffners lenkten ihre Aufmerksamkeit von der
Landschaft ab. Als sie endlich wieder bewusst wahrnahmen, wo sie sich befanden,
staunte Aaron.
»Meine Güte, sind das alles Kaffeepflanzen?«
»Ja.« Pedro war selber so hingerissen von dem
Anblick, dass er einsilbig wurde.
»Es sieht herrlich aus.«
Dann fielen beide in Schweigen, während sie die
vorüberziehende Landschaft in sich aufnahmen.
Ab und zu sahen sie in der Entfernung eine
Fazenda, wuchtige Gebäude meist, die weiß in der Sonne strahlten und nichts von
der Eleganz hatten, die sich im Innern der Herrenhäuser entfaltete.
»Das da hinten ist die Fazenda der Sobrals.«
Pedro deutete mit dem Finger in Richtung Süden. »Ich weiß nicht, ob du es von
hier erkennen kannst, aber die casa grande, das Herrenhaus, hat einen Säulenvorbau.
Stell dir nur vor, Säulen! Wie in Nordamerika!«
»Was ist denn daran falsch?«,
fragte Aaron.
»Also ehrlich, Aaron, manchmal könnte man
glauben, du wärest erst gestern immigriert und nicht schon vor elf Jahren! Es
ist gar nichts falsch daran. Aber in Brasilien hält man sich eher an die traditionell
portugiesische Bauweise, und da haben Säulen vor einem Gutshaus nichts
verloren. Spielkram, verstehst du? Wir halten uns lieber an das Strenge,
Schmucklose. Ein Haus wie das der Sobrals ist einfach zu protzig. Es ist nicht
keusch genug.«
Aaron musste kichern.
»Natürlich«, fuhr Pedro fort, »beneiden ihn alle
um dieses herrschaftliche Säulenportal. Es würde nur nie jemand zugeben.«
»Und
wie sieht euer Haus aus?«, wollte Aaron wissen.
»Mach dir selber ein Bild – in knapp zwei
Stunden sind wir da. Aber gut, so viel vorweg: Es sieht nach rechtschaffener
Arbeit und nach sehr katholischen Bewohnern aus. Von außen jedenfalls.
Abgesehen von ein paar klitzekleinen Details, die dann doch die Eitelkeit und
den Hochmut unserer Familie verraten: die Palmenallee, der Springbrunnen vor
dem Haus, die Keramikzapfen am Treppensims, die Schnitzarbeit an den Fensterläden
...«
»Schon gut, schon gut. Verrat noch nicht alles.
Ich gedulde mich.« Als der Zug die ersten Häuser Vassouras' passierte, legte
auch João
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