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Ana Veloso

Ana Veloso

Titel: Ana Veloso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Duft der Kaffeeblüte
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sogar befürchten ließ, dass sie jeden
Augenblick rückwärts hinabrollen würden. Die letzte Etappe legte der Zug ächzend
in einem so steilen Winkel zurück, dass Vitória, die León gegenüber saß, sich
an ihrer Bank festklammern musste, um nicht von ihrem Sitz zu rutschen, León
geradewegs in die Arme. Und er grinste sie an, der Schuft! Er hatte gewusst,
dass sie in Fahrtrichtung hätte Platz nehmen müssen, um von der Schwerkraft
sicher in die Bank gedrückt zu werden.
    »Möchtest du mit mir den Platz tauschen?«, fragte
er sie scheinheilig.
    »Damit dann du vom Sitz rutschst und auf mich fällst?
Nein danke.«
    Nachdem sie an der Endstation angekommen waren,
mussten sie noch weitere zehn Minuten zu Fuß gehen, um auf den Gipfel zu
gelangen. Es war ein heißer Sonntag, und trotz der kühleren Luft, die hier oben
wehte, waren sie nach dem Aufstieg erhitzt und außer Atem. Doch die Aussicht
entschädigte sie mehr als großzügig für diese Strapaze. Das Panorama war überwältigend!
Vitória blieb an dem Mäuerchen der südlichen Aussichtsplattform stehen,
breitete ihre Arme auf dem von der Sonne aufgewärmten Stein aus und staunte.
Unter ihr lagen die Lagune und der Botanische Garten, linker Hand glitzerte das
Meer, in einiger Entfernung erhoben sich die »Dois Irmãos« und die »Pedra da Gávea«,
imposante Gebirgsformationen, die in der diesigen Luft nur schemenhaft zu sehen
waren.
    León war von einem ganz anderen Anblick
gefangen. Er konnte den Blick nicht von Vitória abwenden, wie sie dort an der
Mauer stand, verträumt lächelnd die Szenerie betrachtete und gedankenverloren
ihren Hut festhielt, den der Wind fortzuwehen drohte. Er trat hinter sie, legte
die Arme um ihre Taille, zog sie enger an sich heran und beugte seinen Kopf
herab. »Weißt du, dass du noch viel atemberaubender bist als diese Aussicht?«,
raunte er ihr ins Ohr.
    Vitória bezweifelte, dass es der Aufstieg war,
von dem ihr plötzlich so heiß war und von dem ihre Beine wacklig wurden.
Dennoch versuchte sie, sich aus seiner Umarmung zu lösen und ihn von sich
fortzuschieben.
    Aber Léon hielt sie nur noch fester. Er küsste
ihren Nacken und spürte, wie sich die Härchen an ihren Armen aufrichteten.
    »Wenn uns jemand sieht ...«
    »Uns sieht niemand, meu amor. Alle, die
nicht im Pavillon sind, bewundern den Blick von der Nordplattform aus, auf die
Stadt und die Bucht. Hierher kommen nicht viele. Und selbst wenn – die Leute
werden denken, dass wir ein verliebtes Ehepaar sind. Sie werden uns beneiden.«
    Vitória sagte dazu nichts. Sie beide wussten es
besser. Sie waren nur ein Ehepaar, aber kein verliebtes. Höchstens ein lüsternes.
Und zutiefst verunsichertes. Verstieß Küssen am helllichten Tag und in aller Öffentlichkeit
nicht eindeutig gegen die Spielregeln, die sie selbst sich auferlegt hatten?
Warum musste León sie hier und jetzt mit seinen Zärtlichkeiten bedrängen? Er
wusste doch genau, wie sie darauf reagierte. Konnten sie nicht ein einziges Mal
einen netten, harmlosen Tag miteinander verbringen?
    In dem hilflosen Versuch, der Situation den
Anschein von Leichtigkeit zu verleihen, nahm Vitória León bei der Hand. »Komm,
León, lass uns auch auf die andere Seite gehen. Kann man von dort aus unser
Haus sehen?«
    Die erregende und zugleich verstörende Atmosphäre,
die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, verflog, als sie die nördliche Aussichtsplattform
erreichten. Zwei Jungen in Matrosenanzügen spielten Fangen und wurden
zwischendurch immer wieder von einem älteren Paar, anscheinend ihren Großeltern,
zur Ordnung gerufen. Eine Gruppe von jungen Männern alberte lauthals herum. Ein
Fotograf baute umständlich seine Kamera auf und versicherte sich mit stolzen
Blicken in die Runde, dass ihm auch alle bei dieser wichtigen Beschäftigung
zusahen. Alltag, dachte Vitória erleichtert, sonntägliche Normalität. Wie wohl
das tat, gut gelaunte Menschen zu sehen und von ihrer krankhaften Ehe abgelenkt
zu werden. Vitória lehnte sich über die Brüstung und bewunderte das grandiose
Bild, das sich ihnen bot.
    »Sieh nur, León, da, unser Haus!«
    León, der schräg hinter ihr stand, beugte sich
nach vorn und drückte seine Wange leicht an Vitórias. Er blickte in die
Richtung, in die sie mit ausgestrecktem Arm deutete.
    »Ja, ich sehe es.«
    »Wie klein es aussieht, von hier oben. Wie klein
und friedlich und still ganz Rio daliegt. Es ist herrlich!«
    »Ja, das ist es.« León küsste Vitória auf die
Wange und löste sich von

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