Ana Veloso
ihr.
»Ich hole uns etwas zu trinken, damit wir anstoßen
können.« Auf unsere missratene Ehe, ergänzte Vitória im Geiste.
»Auf diesen Tag und die Versprechen, die er
birgt«, sagte León. »Auf die Aussicht – und die Aussichten ...« Seine
geheimnisvollen dunklen Augen funkelten sie unter den dichten schwarzen Wimpern
an. In seinem Blick las Vitória Hoffnung, aber auch einen gequälten Ausdruck.
Verletzlichkeit? Verletztheit? Bevor sie diesen Ausdruck entschlüsseln konnte,
drehte sich León um und ging zu dem Kiosk im Pavillon. Vitória lehnte sich
wieder über das Mäuerchen und dachte, den Blick in die Ferne gerichtet, über Leóns
Worte nach. War es nur ihre Einbildung, oder hatte er ihr gerade ein
Friedensangebot unterbreitet? Konnten sie überhaupt noch zurückfinden zu einem
normalen Umgang miteinander? Einen Versuch war es jedenfalls wert.
Doch als León mit den Getränken zurückkam, einem
Glas Champagner für sich und einem Glas Limonade für sie, war er nicht allein.
João Henrique ging neben ihm her.
»Ah, meine Gönnerin! Einen wunderschönen guten
Tag, liebe Vitória.«
Ausgerechnet! Von allen Menschen war João
Henrique derjenige, den sie jetzt am wenigsten sehen wollte.
»Guten Tag, João Henrique. Wie ich sehe, lastet
Sie die Arbeit im Hospital nicht ganz aus ...« Vitória wusste, dass ihr spöttisch
vorgebrachter Vorwurf völlig unangebracht war. João Henrique mochte ihr noch so
unsympathisch sein, mochte als Privatmann oberflächlich und berechnend sein,
doch als Arzt war er vorbildlich. Er war tüchtig und so voller Enthusiasmus,
dass er sogar an Sonn- und Feiertagen oft im Hospital anzutreffen war. Nun ja,
irgendeinen Grund musste es schließlich geben, warum ihr Bruder mit diesem
Scheusal befreundet war.
»Bitte, bitte! Heute ist der Tag des Herrn,
nicht wahr? Selbst ein so viel beschäftigter Mann wie ich muss sich einmal eine
Pause gönnen. Und welcher Ort wäre geeigneter dafür, Abstand von den Sorgen des
Alltags zu finden, als dieser Berggipfel?«
»Ja, genießen Sie den himmlischen Tag. Ab morgen
bin ich ja wieder im Krankenhaus und mache Ihnen das Leben zur Hölle.« Vitória
konnte sich die kleine, gemeine Bemerkung nicht verkneifen. Als Stifterin des
neuen Traktes nahm sie sich ein Mitspracherecht heraus, das ihre Kompetenzen
bei weitem überstieg. Doch niemand wagte es, sich der reichen Senhora Vitória
Castro da Silva zu widersetzen – die ihre Macht mit sadistischem Vergnügen
ausspielte und João Henrique bei jeder Gelegenheit in seine Schranken wies.
León sah seinen Freund kalt an. »Ja, genieß den
Tag und lass uns freundlicherweise allein. Wir haben etwas unter vier Augen zu
besprechen.«
»Um Gottes willen, entschuldigt! Wer kann denn
ahnen, dass ihr hier ein Tête-à-tête habt? Ich hätte meine Hand dafür ins Feuer
gelegt, dass auch Aaron und die Schwarze Witwe, Verzeihung, ich meine Dona Cordélia,
nicht weit sind. Tja, also dann, lasst euch von mir nicht stören. Einen schönen
Tag noch.« Er stapfte davon und trat versehentlich auf ein Stofftier, das auf
dem Boden lag. Sekunden später war lautes Geschrei von einem Kind zu hören,
doch João Henrique war bereits verschwunden.
León reichte Vitória ihr Glas und zuckte traurig
mit den Schultern. »Es kommt ja immer irgendetwas dazwischen.«
»Ja. Leider.«
León studierte aufmerksam Vitórias Gesicht. Hätte
sie sich auf seine romantischen Pläne eingelassen, wenn João Henrique nicht
unerwartet aufgekreuzt wäre?
»Auf uns«, sagte er leise und stieß mit ihr an.
»Auf uns«, erwiderte sie kaum hörbar und trank.
Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Himmel, ist diese Limonade sauer!«
»Sauer
macht lustig, heißt es.«
»Na dann ...« Vitória stürzte das ganze Glas mit
angehaltener Luft herunter und schüttelte sich.
»Komm. Lass uns von hier verschwinden. Ich weiß
einen Ort, an dem uns kein Mensch aufstöbert.«
»Unser Bett«, stellte Vitória mit abfälligem
Unterton fest.
León lachte. »Nein, daran hatte ich jetzt
eigentlich nicht gedacht. Aber es ist keine schlechte Idee ...«
»Doch, ist es. Eine ganz schlechte sogar.«
»Keine Bange, Sinhazinha. Ich habe nicht vor,
den Zauber dieses Tages zu zerstören.«
Zu spät, dachte sie. Das hatte bereits João
Henrique getan. Doch sie nickte, hakte sich bei ihm unter und schlenderte mit
ihm zu der Bahnstation. Schweigend nahmen sie auf der Holzbank des Zuges Platz
und warteten dort, bis sich die Bahn mit anderen Fahrgästen
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