Ana Veloso
plötzliche Abreise ihrer Freundin verdankte, und es sagte ihr
auch niemand. Noch weniger verstand sie, warum Eufrásia so sang- und klanglos
verschwand, ohne ein Wort des Dankes, ohne tränenreiche Verabschiedung, aber
mit einer silbernen Haarbürste, einer Amethystbrosche und mehreren Kleidern Vitórias
im Gepäck. Isaura, die Eufrásias Koffer gepackt hatte, erzählte Vitória von
diesem Diebstahl, den Eufrásia nicht als solchen betrachtete. »Du unverschämtes
Ding«, hatte sie Isaura angefahren, »natürlich gehören mir diese Sachen. Sinhá
Vitória hat sie mir selbst gegeben.« Ja, dachte Vitória, das hatte sie – und
dabei nicht im Traum daran gedacht, dass ihre Freundin die Leihgaben als
Geschenke betrachten würde. Aber es war ihr egal. Sie hätte Eufrásia noch zehn
silberne Bürsten hinterhergeworfen, wenn sie sie nur nie wiedersehen musste.
Die Atmosphäre in ihrem Haus war in den Tagen
nach Eufrásias Abreise so aufgeladen, dass Vitória ihre Freude gar nicht
richtig auskosten konnte. Dona Alma blieb tagelang auf ihrem Zimmer, das sie
nicht einmal zum Essen verließ. Taís und die anderen Dienstboten sahen sich
denselben Schikanen ausgesetzt wie zu der Zeit, als Vitórias Eltern neu eingezogen
waren. Und León blieb ebenfalls dem Abendessen immer öfter fern, sodass Vitória
und ihr Vater meist zu zweit an dem großen Tisch saßen und sich – in
gegenseitiger Rücksichtnahme – anschwiegen. Sie wollte ihm nicht von ihren
erfolgreichen Geschäften erzählen, weil sie seinen Stolz damit zu verletzen fürchtete,
und er wollte mit ihr nicht über die neuesten Errungenschaften der Technik
reden, weil er ihr zu all ihren Problemen nicht auch noch Sorgen über ihren
verrückten alten Vater aufbürden wollte. Doch obwohl beide die Stille bei Tisch
nicht als unangenehm empfanden, verbrachten sie wenig Zeit mit dem Essen. Es
war kein geselliges Ereignis mehr, bei dem man Wein trank und sich über die
Ereignisse des Tages unterhielt, sondern diente einzig der Nahrungsaufnahme.
Vitória hätte die Abende lieber mit Aaron verbracht, und nur die traurige
Vorstellung, dass ihr armer Vater dann ganz allein am Tisch sitzen würde, band
sie ans Haus.
Tagsüber dagegen war Vitória umtriebig wie nie.
Sie befasste sich mit Anlagemöglichkeiten im Ausland und mit Schürfrechten in
Brasilien, traf sich mit Geschäftsleuten und Finanzbeamten, legte sich mit der
Zollbehörde und mit der Präfektur an, analysierte Marktberichte und
statistische Listen. Ihre Begeisterung fürs Geldverdienen kannte keine Grenzen.
Jede Veränderung in den Auslagen der Läden, jedes neuartige Produkt und jede
aktuelle Modetendenz weckten in ihr neue Geschäftsideen. Wenn Joana von ihrem
Traum erzählte, eines Tages ein Herz-Piano zu besitzen, dann dachte Vitória immer
gleich einen Schritt weiter: Wäre der Import von diesen Klavieren lukrativ?
Wenn die Eheleute Witherford sich öffentlich über Wetteinsätze berieten,
rechnete Vitória schon im selben Moment durch, wie viel sie in Rennpferden
anlegen konnte. Wenn León mit einer extravaganten Krawatte nach Hause kam,
wusste Vitória, dass diese Krawatten im nächsten Jahr modern sein würden, und
legte ihr Geld entsprechend an. Geld wurde zu ihrem Lebenselixier. Anders als
bei anderen sehr reichen Menschen war es aber nicht der bloße Besitz eines
immensen Vermögens, der sie glücklich machte, sondern allein der symbolische
Wert, den das Geld darstellte: Es war ein Zeichen ihres Erfolgs und der
greifbare Beweis ihrer Kompetenz.
Am Ausgeben hatte Vitória nicht halb so viel Spaß
wie am Verdienen, jedenfalls nicht für persönliche Bedürfnisse. Sie stiftete
enorme Summen für wohltätige Zwecke. Im Gegensatz zu dem, was ihre Mutter
glaubte, floss das meiste Geld in Projekte, an denen die Öffentlichkeit wenig
Interesse hatte. Der Dachstuhl der Bruderschaft von Nossa Senhora da Glória
konnte dank eines unbekannten Spenders gerichtet werden, zahlreiche kleine
Bibliotheken und Lesestuben in bescheideneren Vierteln erhielten Gelder zur
Anschaffung neuer Bücher, im Osten der Stadt wurde mit Vitórias Geld ein
Altersheim für ehemalige Sklaven errichtet. Sie unterstützte die Feuerwehr, die
Kunstakademie, die Musikschule, mehrere Hospitäler. Besonders großzügig erwies
sie sich gegenüber einer kleinen Grundschule, in der Schwarze alphabetisiert
wurden und der Dona Doralice vorstand. Vitória hatte ihre Schwiegermutter – den
Verwandtschaftgrad ignorierend und sie wie eine entfernte
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