Ana Veloso
leise auf sie einredend, den Raum.
»Was hat er nur heute Abend?«, fragte Eufrásia.
Dona Alma war ebenso ratlos. »Ich weiß es auch
nicht. Vitória gegenüber ist er nie anders als höflich und gleichgültig. Dass
er ihre Ehre, von der, unter uns gesagt, nicht mehr viel übrig ist, so vehement
verteidigt, hätte ich nicht gedacht.«
»Ich auch nicht. Ich habe ihn nie für einen Mann
gehalten, der besonders viel von Ehre hält oder einem guten Ruf. Er selber ...«
»Ja, meine Liebe, sprich es bitte nicht aus. Ich bin vollkommen über die
Fehltritte meines Schwiegersohns unterrichtet.«
Eufrásia und Dona Alma sahen sich an, im Gesicht
der jeweils anderen die eigene Empörung wiederfindend – und die geheime
Faszination für das verruchte Leben Leóns, über das sie nicht das Geringste
wussten.
»Ihr Frauen solltet jetzt besser den Mund
halten. Wenn man euch hört, würde man nicht glauben, dass Vita deine Tochter
ist, Alma, und deine beste und älteste Freundin, Eufrásia. Schämt euch!« Aber
die beiden taten nichts dergleichen. Sie hatten dieses Gespräch in immer neuen
Variationen schon so oft geführt, auch in Anwesenheit Eduardos, dass ihnen
jetzt seine Zurechtweisung nur wie das papageienhafte Echo auf Leóns Worte
erschien. Der alte Mann wurde einfach ignoriert. Solange León nicht im Raum
war, würden sie ihr Lieblingsthema weiter vertiefen, speziell heute, da Vitória
zum ersten Mal ohne Angabe von Gründen dem Diner fern geblieben war.
»Ich hatte mich schon gewundert, warum sie heute
ausnahmsweise einmal ein hübsches Kleid angezogen hat«, sagte Dona Alma in
einem Ton, aus dem Trauer und Skandallüsternheit gleichermaßen sprachen.
»Hübsch?«, rief Eufrásia aus. »Dieses Kleid ist
aus der letzten Saison! Aber Hauptsache, die Dessous sind neu ...«
Keine der beiden Frauen hatte bemerkt, dass León
im Türrahmen stand und ihnen zuhörte. Bei Eufrásias letzten Worten ging er zu
ihrem Platz, lautlos, wie ein Raubtier, das sich an seine Beute heranpirscht,
und sagte mit leiser, dennoch beißender Stimme: »Madame, Sie werden unverzüglich
dieses Haus verlassen.«
Eufrásia sah Eduardo und Dona Alma um Hilfe
bettelnd an, doch die beiden waren noch schockierter als sie und beobachteten
das peinliche Schauspiel mit schreckgeweiteten Augen.
»Aber León, ich habe noch nicht einmal zu Ende
gegessen.«
»Sie können auf São Luíz so viel essen, bis Sie
platzen. An meinem Tisch sind Sie nicht mehr erwünscht.« Damit zog er ihren
Stuhl zurück, nahm ihr die Serviette vom Schoß und zwang sie zum Aufstehen.
»Ich habe das nicht nötig!«, ereiferte sich Eufrásia.
»0 doch. Und eine Tracht Prügel obendrein. Aber
keine Bange, ich werde Ihr fettes Hinterteil verschonen, wenn Sie sich jetzt
sofort daranmachen, Ihre Sachen zu packen.«
»Aber es geht doch um diese Uhrzeit kein Zug
mehr«, jammerte Eufrásia, die den Ernst ihrer Lage plötzlich erkannte.
»Sie können in ein Hotel gehen.«
»Du gehst zu weit, León«, versuchte Dona Alma zu
intervenieren. »Du verstößt gegen alle Regeln der Gastfreundschaft.«
»Und dort wird Ihnen Dona Alma für den Rest des
Abends sicher gerne Gesellschaft leisten«, sagte León ungerührt, an Eufrásia
gewandt. »Sie haben sich bestimmt noch viel zu sagen, außerdem können Sie dort
in aller Ruhe über die Regeln der Gastfreundschaft nachdenken.« Damit zerrte er
Eufrásia aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich.
In der Halle griff er in seine Rocktasche, zählte
zehn Goldfranken ab und gab sie Eufrásia. »Das dürfte reichen, um eine Nacht im
Hotel, die Zugfahrt, einen Bogen Papier und eine Briefmarke zu kaufen, damit
Sie sich bei Vita für ihre Hilfe, ihren Großmut und ihre Geduld mit Ihnen
bedanken können.« Gierig griff Eufrásia nach dem Geld, das für sehr viel mehr
als das reichen würde, und rannte die Treppe hinauf.
León ging zurück ins Esszimmer, als sei nichts
gewesen. Doch an der Art, wie er den inzwischen erkalteten Braten auf seinem
Teller attackierte, erkannten seine Schwiegereltern, wie aufgewühlt er war.
Eduardo, vertraut mit männlicher Wut und Aggression, wusste aus Erfahrung mit
anderen jungen Hitzköpfen, dass León sich bald wieder beruhigen würde. Doch
Dona Alma, die von derartigen Ausbrüchen ihr Leben lang verschont geblieben
war, bekam zum ersten Mal eine Ahnung von der Leidenschaft und der Gewalt,
deren León fähig war, und es machte ihr Angst.
Vitória verstand nicht, welchem glücklichen
Umstand sie die
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