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Ana Veloso

Ana Veloso

Titel: Ana Veloso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Duft der Kaffeeblüte
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Frisur. Ihr Haar fiel schwer und in großen
schwarzen Locken bis zur Taille herab. Er knöpfte das Oberteil ihres Kleides
unanständig weit auf, dann bückte er sich und zerriss in einer einzigen
schnellen Bewegung ihren Rock. All das tat er ohne sichtliche Gemütsregung, mit
kaltem Blick und beherrschten Gesten. Vitória war vor Schreck wie gelähmt.
    »So, und jetzt benimm dich einfach so wie immer,
dann wird dir jeder deine > Verkleidung < abnehmen.«
    Die Ohrfeige, die Vitória ihm verpasste, war so
hart, dass sie einen roten Abdruck auf Leóns Wange hinterließ. In den Sekunden,
die er nun seinerseits brauchte, um sich von dem Schock zu erholen, griff Vitória
nach den Zügeln und hielt das Pferd an. In einem Satz sprang sie herab und lief
davon.
    Ziellos und mit Tränen in den Augen rannte Vitória,
bis sie keine Luft mehr bekam. Ihr Knöchel schmerzte, sie musste sich bei dem
Sprung von der Kutsche verletzt haben. Sie blieb stehen und sah sich um. Sie
hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, aber irgendwo musste ja wohl eine
Mietkutsche aufzutreiben sein. Etwas langsamer lief sie weiter, ihr
Seitenstechen und die Schmerzen im Knöchel verdrängend, doch die Gassen wurden
immer enger, die Leute immer aufdringlicher, der Geruch aus den billigen
Kneipen immer Ekel erregender. Eine grell geschminkte Schwarze in zerlumpten
Kleidern rief ihr erbost zu: »Hier nicht, du weiße Schlampe. Das ist mein
Revier!« Ein sturzbetrunkener Mulatte torkelte auf sie zu und griff nach ihren
Brüsten. Mit einem gezielten Tritt zwischen seine Beine gelang es Vitória, sich
vor ihm in Sicherheit zu bringen. Ein lim ã o de cheiro, eine mit
parfümiertem Wasser gefüllte Wachskugel, mit denen im Karneval traditionell die
Leute beworfen wurden, flog haarscharf an ihrem Kopf vorbei. Vitória fluchte
laut.
    In den umliegenden Straßen wurde es keineswegs
besser. Zwar erweckten die Häuser den Anschein, als sei die Gegend nicht mehr
gar so elend, doch die Menschenmassen, die sich hier eingefunden hatten, um
Karneval zu feiern, waren genauso bedrohlich. Die Menge wogte sich im
rhythmisch stampfenden Getrommel einer bateria, einer Trommlertruppe.
Die meisten der Männer hatten sich ihrer Hemden entledigt, im Schein der
Fackeln glänzten die schweißnassen Oberkörper, das Spiel der Muskeln unter
ihrer schwarzen Haut warf bizarre Schatten. Sogar einige Frauen hatten ihre Brüste
entblößt, mit geschlossenen Augen und verzerrten Gesichtszügen tanzten sie in
ekstatischer Verzückung. Das Spektakel war von einer so unverhohlenen Erotik,
dass Vitória wider Willen fasziniert stehen blieb. In diesem Augenblick griff
ein Mulatte lachend nach ihrer Taille, drückte sich von hinten an sie und
bewegte sein Becken im Takt der Trommelmusik, mit den Händen auf ihren Hüften.
Vitória befreite sich mit einem spitzen Schrei aus dem Griff des Mannes, der
ihr verständnislos hinterhersah – er hatte doch nur lundú mit ihr tanzen
wollen.
    León entdeckte Vitória in einem unbeleuchteten
Hauseingang, wo sie hockte wie ein Betteljunge und heulte wie ein Baby. Er ging
vorsichtig auf sie zu, doch als sie merkte, dass sich ihr jemand näherte,
schlug sie hysterisch um sich und schüttelte mit nach unten gerichtetem Gesicht
den Kopf, als sei sie in einen Hornissenschwarm geraten.
    »Seht, Sinhazinha. Es ist alles gut. Wir fahren
jetzt zusammen nach Hause.« León fühlte sich angesichts seiner
niederschmetternden Schuldgefühle genauso schlecht wie Vitória, ließ sich
jedoch nichts davon anmerken. Er redete weiter ruhig auf sie ein, so wie er es
mit Eufrásias Töchterchen gemacht hatte, leise, sanft und tröstend. Als Vitórias
Panik sich gelegt hatte, hob er sie hoch. Sie klammerte sich an seinen Hals,
legte den Kopf an seine Brust und weinte weiter. Sie konnte nicht aufhören
damit. Ihr Kopf war schon wieder in der Lage, einigermaßen klare Gedanken zu
fassen, aber die Tränen schossen ihr immer weiter in die Augen. Und je
liebevoller León auf sie einredete, je zärtlicher er ihr Haar küsste und ihre
tränennassen Wangen, desto verzweifelter weinte sie. »Vita«, flüsterte er, »Vita,
es tut mir so Leid. Oh, meu amor, mein Schatz, verzeih mir!«
    Vitórias Tränenfluss versiegte erst, als sie die
aufgepeitschten Horden, die obszönen Tänze und die vom Getrommel vibrierende
Luft längst hinter sich gelassen hatten und sie die Orientierung wiedergewann.
Sie befanden sich in der Nähe des Largo de São Francisco, an dem zu jeder
Tages- und Nachtzeit

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