Ana Veloso
alten
Tagen einen Einblick in die Lebensweise reicher Brasilianer gewähren wollte.
Die Blicke, mit denen der Italiener sie, ihre Eltern, die Dienstboten, die
Einrichtung des Hauses und das Essen auf dem Tisch musterte, bestätigten diese
Einschätzung. Sie alle waren dem Künstler nicht mehr als willkommene
Studienobjekte, Material für seine Leinwände. In hundert Jahren würde irgendein
Besucher irgendeines drittklassigen Museums in Italien sich belustigt an einem
Gemälde erbauen, auf dem sie beim Souper abgebildet waren – eine junge,
elegante Dame, die das schwarze Mädchen tadelnd ansieht, eine arrogante reifere
Senhora in Schwarz, ein abwesend wirkender älterer Herr, der auf die »exotischen«
Speisen auf seinem Teller blickt, der Hausherr mit lässig ausgestreckten Beinen
und fein bestickten Hausschuhen an den Füßen, unter dem Tisch ein riesiger
Hund, der an einem Knochen nagt. Ja, Vitória hatte das fertige Kunstwerk
bereits deutlich vor Augen, und sie hoffte nur, dass der Künstler es in seinem Überschwang
nicht gar zu realistisch malte. Leóns vereinzelte weiße Haare und ihr roter
Pickel am Kinn waren keine besondere Zierde. Da sollte die Nachwelt sie lieber
so sehen wie auf dem geschmacklosen Esszimmergemälde.
»Und was halten Sie von den Brasilianern? Sind
sie nicht ein ganz besonderer Menschenschlag?«, fragte Dona Alma, als sei sie
selber keine Brasilianerin und in der unüberhörbaren Hoffnung, den Gast über
ihre Landsleute herziehen zu hören. Aber der tat ihr nicht den Gefallen.
»Ja, sehr richtig, ein ganz besonderer
Menschenschlag! Ich habe sie bisher nur als warmherzig und überaus
entgegenkommend kennen gelernt. Hier bei Ihnen, die Sie alle ein tadelloses
Französisch sprechen, ist es mir ja ein Leichtes, mich mit meinen
fragmentarischen Kenntnissen dieser schönen Sprache zu verständigen. Aber dort
draußen, unter einfacheren Leuten, bin ich auf die Hilfsbereitschaft und den
guten Willen der Menschen angewiesen. Und glauben Sie mir, sehr verehrte
Signora Dona Alma, nirgends auf der Welt hat die Kommunikation so gut geklappt
wie hier. Es ist ganz erstaunlich, wie viel die Leute verstehen können, wenn
sie verstehen wollen.«
Dona Alma war zwar mit der Antwort Gianecchinis
nicht zufrieden, aber das Kompliment für ihr Französisch, das in all den Jahren
seit ihrer Schulzeit doch sehr gelitten hatte, stimmte sie gnädig.
»Und erst diese Vermischung der Rassen!«, fuhr
er fort. »Auch das ist einzigartig auf der Welt. In den Vereinigten Staaten von
Amerika, wo sich ja die Bevölkerung in einem ähnlichen Verhältnis aus Weißen
und Schwarzen zusammensetzt wie in Brasilien, sieht man nur sehr wenige
Mulatten. Hier dagegen ...«
»Ja, es ist eine Schande.« Dona Alma schüttelte
traurig den Kopf. Vitória sah, dass León sich amüsierte, als freue er sich
schon auf das Unwetter, das dieses Missverständnis heraufbeschwören würde. »Eine
Schande? Nein, alles andere als das, es ist ein Segen! Ich habe noch nie so
viele verschiedene Töne von Hautfarben gesehen wie hier, so viele verschiedene
Augenfarben, Körperstaturen, Haarbeschaffenheiten. Es ist ein Naturwunder!
Heute habe ich in einem Schreibwarenladen, in dem ich nach Künstlerfarben
gefragt habe, einen Mulatten gesehen, der fast dieselbe Augenfarbe hatte wie
Ihr hoch geschätzter Herr Gemahl. Ja, ist das nicht unglaublich? Ein dunkelhäutiger
Mensch mit den Gesichtszügen eines Weißen und mit hellen, braun-grauen und grünlich
gesprenkelten Augen, die für einen Künstler eine einzigartige Herausforderung
darstellen.«
»Früher hätte diese Kreatur den Blick vor Ihnen
gesenkt. Da hätten Sie die Augen gar nicht so genau studieren können.«
Sein Enthusiasmus machte den armen Mann
anscheinend völlig gefühllos für Dona Almas bissige Bemerkungen. Vitória stöhnte
innerlich auf, als er seine Aufzählung unbeeindruckt fortsetzte. »Gut, dass das
heute anders ist. Ja, und dann habe ich ein Mädchen von tiefdunkler, beinahe
schwarzer Farbe gesehen, mit langem, glattem, schwarzem Indiohaar, das es zu Zöpfen
gebunden hatte. Und einen ...«
»Lassen Sie es gut sein, Mario«, unterbrach León
seinen Freund. »Meine Schwiegereltern und meine Frau schätzen die
Rassenvermischung nicht, so herrlich auch ihr Ergebnis sein mag.«
Vitória rutschte ungehalten auf ihrem Stuhl
herum, bevor sie merkte, dass León sie anstierte. Was wollte er? Sollte sie
sich etwa zu dem »herrlichen Ergebnis der Rassenvermischung« äußern, als
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