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Ana Veloso

Ana Veloso

Titel: Ana Veloso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Duft der Kaffeeblüte
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deren
Krönung er zweifellos sich selber betrachtete?
    »Außer bei meinem Hund natürlich«, sagte sie, bückte
sich und klopfte Sábados Bauch unter dem Tisch. »Aber sagen Sie, Senhor
Giannini ...«
    »Gianecchini.«
    »Verzeihung, Senhor Gianecchini. Was haben Sie
darüber hinaus noch für Beobachtungen gemacht, worin wir uns von Europäern
unterscheiden?«
    »Viele, allzu viele, mit denen ich Sie nicht
langweilen möchte, da Sie sicher dieselben Beobachtungen ebenfalls gemacht
haben.«
    »Nein, reden Sie nur. Ich war noch nie in Europa«, damit sah Vitória
vielsagend zu León, »und ich bin sehr gespannt, wie ein Europäer uns sieht.«
Dass sie zahlreiche Franzosen, Engländer, Italiener, Holländer und Deutsche in
Rio kannte, genau wie deren Meinung über Brasilianer, erwähnte sie nicht.
    »Tja, da wäre zum einen der etwas andere
Lebensrhythmus dieses Volkes, was sicher auch an den Temperaturen liegt. Die
Menschen bewegen sich langsamer, schleichen fast. Wer hastet oder sogar läuft,
macht sich sofort verdächtig.«
    »Natürlich«, warf Dona Alma ein, »nur Diebe und
Juden rennen.« Mario Gianecchini räusperte sich unangenehm berührt.
    »Auch scheint mir der wohlhabende, weiße
Brasilianer lusitanischer Abstammung über mehr freie Zeit zu verfügen als die
begüterten Bürger Europas. Man sieht kaum je einen von ihnen arbeiten.«
    »Wie freundlich von Ihnen, sich so gewählt
auszudrücken, Senhor Giovannini. Aber ...«
    »Gianecchini.«
    »Himmel! Entschuldigen Sie bitte, aber warum müssen
Sie nur einen so zungenbrecherischen Nachnamen haben? Erlauben Sie mir, Sie
Mario zu nennen? Ich möchte Sie mit den Entstellungen Ihres Namens wirklich
nicht noch einmal beleidigen. Und nennen Sie mich bitte Vita.«
    »Sehr gern, Signora Vita.«
    »Was ich sagen wollte: Scheuen Sie sich nicht,
es auszusprechen, Mario. Meine Landsleute sind faul.«
    »Vitória!«, meldete sich nun erstmals ihr Vater
zu Wort.
    Vitória beachtete ihn nicht. Die Arbeitsscheu
von Leuten wie Eufrásia, Rogério und so vielen anderen alten und neuen
Bekannten, die ihre Hautfarbe und ihre Herkunft als Lizenz zum Müßiggang
betrachteten, war ihr ein stetes Ärgernis – und eines ihrer bevorzugten Gesprächsthemen.
Sie freute sich, dass Leóns Freund so schnell erkannt hatte, woran die junge
Republik krankte. Die gebildeten Leute beuteten die ungebildeten Schwarzen
weiter aus, die, kein bisschen anders als zu Zeiten der Sklaverei, alle
niederen Arbeiten verrichteten. Mulatten mit einer rudimentären Schulbildung
oder Weiße aus bescheideneren Verhältnissen beherrschten das Handwerk sowie den
mittelständischen Handel. Die »Senhores« dagegen brachten nur dann ein wenig
Energie auf, wenn es galt, die Vergeudung weiterer Energie in Form von
ehrlicher Arbeit zu verhindern: Protektionismus und Korruption trieben
fantastische Blüten.
    Ja, die »portugiesische« Oberschicht war faul –
und Vitória war eine der Leidtragenden dieser unseligen Haltung. Es gab kaum
noch Behörden, die ohne einen entsprechenden Beitrag einen Handschlag getan hätten,
keinen ehrlichen Polizisten und keinen anständigen Finanzinspektor mehr. An den
Fakultäten wurden die Professoren geschmiert, damit sie dummen Kindern aus
Familien mit noch immer klangvollen Namen den Grad eines Magisters oder sogar
einen Doktortitel verliehen. Die Baubehörde beurteilte Bauvorhaben nicht mehr
nach deren Sinn oder Notwendigkeit, sondern genehmigte jedes städteplanerisch
absurde Projekt, wenn sie nur reichlich dafür entlohnt wurde. Aufträge für
Brunnen oder Statuen auf öffentlichen Plätzen gingen nicht mehr an den
begabtesten Künstler, sondern an den, der sich als Cousin eines Freundes eines
Sohnes des zuständigen Beamten Gehör verschaffen konnte.
    Vitória verstand nicht, wie sich alle so gut
damit arrangiert haben konnten. War sie die Einzige, die unter diesen Zuständen
litt? Hatte denn niemand in diesem Land ein Gewissen? Was empfand der Beamte,
wenn er an einem albtraumhaften Springbrunnen vorbeikam, den er selber bei dem
untalentierten Künstler in Auftrag gegeben hatte?
    Gefiel es den Leuten etwa, einen Arzt
aufzusuchen und dabei immer den beklemmenden und oft berechtigten Verdacht zu
haben, dass der »Herr Doktor« ein unfähiger Schwindler war? Oder in einer Straße
zu wohnen, die urplötzlich umbenannt wurde – meistens nach Politikern, die sich
durch große Inkompetenz und noch größere Raffgier hervorgetan hatten und
dadurch zu Ruhm und Ehre gelangt waren? Es

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