Ana Veloso
waren deren so viele, dass man sich
in Rio gar nicht mehr auskannte, bei all den neuen Straßennamen.
»Ist es nicht so, Signora Vita?«
Vitória schrak aus ihren Betrachtungen hoch.
»Die große Religiosität, aber auch die Heuchelei
erinnern mich an meine Heimat. Hier ist sie nur sichtbarer. Bei so wenigen
Mischehen und zugleich so vielen Mulatten will mir scheinen, dass die meisten
Menschen die Lehren der katholischen Kirche nicht ganz ernst nehmen.«
León brach in lautes Gelächter aus.
»Die meisten Männer, Mario, die Männer.
Abgesehen davon haben Sie das ausgezeichnet beobachtet, lieber Mario. Genau so
ist es.« Vitória freute sich über die Kritik an der allgegenwärtigen Frömmelei,
die ihr mächtig auf die Nerven ging.
»Ich finde es niedrig, unseren Glauben so in den
Schmutz zu ziehen.« Dona Alma hatte genug von der Konversation. Das
Dessertgeschirr wurde bereits abgeräumt, den Kaffee brauchte sie nicht mehr
abzuwarten, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Faulheit, Promiskuität – was
wollten die jungen Leute den Portugiesen noch für Laster anhängen?
»Ich ziehe mich jetzt zurück. Es war nett, Sie
kennen gelernt zu haben, Senhor Gianelloni.« Jeder im Raum merkte, dass sie den
Namen des Italieners absichtlich verhunzte, auch der Künstler selber, der
diesmal keine Korrektur anbrachte. Er verbeugte sich tief vor Dona Alma, wünschte
ihr eine gute Nacht und wirkte, als sie den Raum verließ, genauso erleichtert wie
alle anderen am Tisch.
Isaura half Dona Alma beim Auskleiden, kämmte
ihr langes graues Haar und flocht es zu einem Zopf für die Nacht. Seit die
ehemalige Sklavin Mitleid mit der verstoßenen Kaiserfamilie demonstriert hatte –
sie betete Prinzessin Isabel als die Erlöserin an, welche die Schwarzen aus dem
Joch der Sklaverei befreit hatte –, war Dona Alma zu ihr recht freundlich und
hatte sie schließlich sogar zu ihrer persönlichen Zofe befördert. Isaura schlug
das Bett auf, knickste und ließ ihre Senhora allein. Dona Alma legte sich einen
Schal um die Schultern, schob einen Stuhl vors Fenster, nahm einen großen
Schluck von ihrem neuen Heiltonikum und starrte in den Himmel. Alles war
verkehrt in diesem Land, alles! Nicht einmal die Mondsichel konnte am Firmament
stehen, wie sie sollte, sondern lag auf dem Rücken und sah aus wie eine leere
Schüssel.
In wenigen Wochen, im Mai 1891, würde sich ihre
Ankunft in Brasilien zum dreißigsten Mal jähren, doch bis heute fühlte sich
Dona Alma ihrem Geburtsland Portugal mehr verbunden als dieser tropischen Hölle.
Die braunen, in der trockenen Sommerhitze verdorrten Felder des Alentejo
erschienen ihr im Rückblick wie das reinste Arkadien, während sie das
hemmungslos wuchernde Grün Brasiliens für geradezu obszön hielt. Der
verbrannt-staubige Geruch von Ziegeln, die unter der Sonne brieten, wurde in
ihrer Erinnerung zu einem betörenden Duft verklärt, während sie die intensiven
Aromen der tropischen Pflanzen ordinär und die der trocknenden Kaffeekirschen
abstoßend fand. Die Melodien des Fado lösten in ihr mehr saudades, wehmütiges
Sehnen, aus als der traurige chorinho, den die Brasilianer neuerdings hörten.
Die sanften Hügel Lissabons waren ihr hundertmal lieber als die melodramatische
Silhouette Rios, den kehligen Dialekt ihres Heimatdorfes fand sie ungleich schöner
als den trägen Singsang der Brasilianer. Was, fragte sie sich, hatte sie nur
falsch gemacht, dass Gott sie so strafte?
In ihrem ganzen Leben hatte sie eine einzige Sünde
begangen, und auch die nur aus Unwissenheit und Liebe, mit siebzehn Jahren.
Konnte der große, allwissende Herr im Himmel derartig kleingeistig sein, dass
er sie heute noch immer dafür büßen ließ? Sie, die Tochter aus gutem Hause,
hatte sich in den feschen Júlio verguckt, seinem Drängen nachgegeben, und das
war nicht ohne Folgen geblieben. Eine Episode, die nicht länger als zwei Monate
gedauert hatte, konnte der liebe Gott doch nicht wirklich mit lebenslanger Buße
belegen! Der fesche Júlio hatte sich vor der Verantwortung gedrückt, als sie
ihm berichtete, dass sie in anderen Umständen war. Er verschwand auf
Nimmerwiedersehen aus dem Dorf, das ihn zur Hochzeit gezwungen hätte. Doch
Eduardo da Silva, ein Bauer zwar, aber ein kluger, großzügiger und korrekter
Mann, wenngleich ein bisschen langweilig im Vergleich zu Júlio, hatte sie
genommen. Er hatte sie geheiratet, obwohl er wusste, dass sie das Kind eines
anderen erwartete. Die Schiffsreise nach Brasilien, die damals
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