Ana Veloso
noch fast zwei
Monate dauerte, würde sie genauso wenig vergessen wie den Tag, als das Kind zur
Welt kam und nach wenigen Stunden starb. Da saß sie nun, mit einem Mann, den
sie nicht liebte, in einem Land, das sie verabscheute! Doch sie hatte Heimweh,
Einsamkeit und die Trauer um den kleinen Carlos verdrängt, hatte gearbeitet wie
ein Maulesel, um aus Boavista ein schmuckes Heim zu machen, hatte gelernt,
ihren Mann zu mögen und zu ehren, hatte ein gottgefälliges Leben geführt.
Dem rachsüchtigen Herrgott hatte das nicht
gereicht. Weitere zwei Kinder, Joana und Manoel, starben noch im ersten Lebensjahr.
Ihre süße kleine Isabel, ein sanftmütiges Wesen mit hellem Haar und
engelsgleichem Gesichtchen, wurde ganze elf Jahre alt, der kecke, vorlaute
Rabauke Guilherme, der ihr von all ihren Kindern mit seiner olivfarbenen Haut
und den aristokratischen Zügen am ähnlichsten sah, wurde nur acht. Sieben
Kinder hatte sie geboren, fünf verloren. Welche größere Strafe hätte es noch für
eine Mutter geben können?
Dona Alma suchte Trost und Beistand im Gebet,
und tatsächlich schienen die Heimsuchungen ein Ende zu haben. Es folgte eine
Zeit des Wachstums, des Friedens, der Sorglosigkeit. Pedro und Vitória
entwickelten sich prächtig, Eduardo und sie selber blieben von Kümmernissen
weitgehend verschont, Boavista prosperierte. Dona Alma war überzeugt, dass ihr
Schöpfer ihre Gebete erhört hätte. Dabei hatte er nur eine Pause eingelegt in
seiner maßlosen Rachsucht.
Rheuma und Arthritis hätte sie noch still
leidend hinnehmen können. Aber die Abschaffung der Sklaverei und damit
einhergehend der Verlust von Ansehen, Vermögen und Freunden, das war einfach zu
viel. Alles, wofür Eduardo und sie dreißig Jahre lang gearbeitet hatten, löste
sich vor ihren Augen in nichts auf. Es war einfach nicht gerecht. Sie hatte
Boavista zwar nie so geliebt wie ihre Heimaterde, doch es war nun einmal ihr
Zuhause geworden, der Geburtsort ihrer Kinder, die große Liebe Eduardos. Jetzt
zusehen zu müssen, wie Eduardo, der immer ein starker, optimistischer, nach
vorn blickender Mann gewesen war, plötzlich mutlos die Schultern hängen ließ,
war furchtbar. Aber noch schrecklicher war die Verwandlung, die mit Vitória vor
sich gegangen war.
Was war aus dem kleinen Mädchen geworden, das
seinem Vater auf Schritt und Tritt gefolgt war, das ihn mit wichtiger Miene und
mit quiekender Kinderstimme imitiert hatte? Das auf dem Schoß seiner Mutter
gesessen und reumütig seine Sünden gebeichtet hatte: wie es Pedros Schulbücher
bekritzelt oder Luizas Pfeife stibitzt hatte, wie es aus dem Fenster Spuckefäden
herablaufen ließ, von denen einer José getroffen hatte? Heute behandelte Vitória
ihre Eltern wie Fremde, wie entfernte Verwandte, die man notgedrungen aufnehmen
muss und denen man immerzu das Gefühl gibt, sie seien nicht willkommen. Ja, sie
war schon als Kind ein wenig herrisch gewesen, hatte als 10-Jährige den 16-Jährigen
Bruder fest im Griff gehabt und ihn gezwungen, ihr mathematische Kopfnüsse
aufzugeben, andernfalls würde sie seine Liebespoeme den Eltern zeigen. Ein
blitzgescheites Mädchen, das von Jahr zu Jahr hübscher wurde. Was war aus dem
jungen Mädchen geworden, um das sich die vornehmen jungen Herren gerissen
hatten und das alle anderen Sinhazinhas im Vale aussehen ließ wie welkes
Unkraut neben einer blühenden Rose? Ja, eine Rose war sie gewesen, die heute zu
viele Dornen hatte. Sie war noch immer eine Schönheit, nur musste man sich Mühe
geben, diese Anmut zu entdecken. Warum entstellte sie sich so, mit Brille,
langweiligen Kleidern, fantasielosen Frisuren? Gönnte sie ihren Eltern noch
nicht einmal den Stolz auf eine wohlgeratene Tochter und ihrem Mann den Blick
auf eine schöne Frau? Und das war ja nicht alles, was sie ihm vorenthielt.
Dona Alma hatte Mitleid mit León. Sicher, seine
Vergangenheit war nicht gerade rühmlich, seine Herkunft noch immer von vagen
Vermutungen überschattet, sein Umgang skandalös. Aber er hatte Manieren,
behandelte sie und Eduardo immer mit dem größten Respekt, war sehr gut
aussehend und charmant. Manchmal, wenn León lächelte, erinnerte er sie an Júlio.
Er hatte dieselbe maskuline Ausstrahlung, die gleichen dunklen Augen, deren
Ausdruck zwischen Leiden und Sehnen oszillierte. Doch er besaß außerdem einige
Eigenschaften, die ihrer Jugendliebe gefehlt hatten: Verantwortungsbewusstsein,
Ehrlichkeit, Mut. Und er liebte ihre Tochter heiß und innig. Warum musste Vitória
nur
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