Ana Veloso
alle, die sie hätten glücklich machen können, so quälen? Eine Scheidung!
Das war doch die Höhe!
Vor einigen Tagen war sie, Dona Alma,
unfreiwillig Zeugin eines lautstarken Streits zwischen Vitória und León
geworden, der darin gipfelte, dass Vitória ihrem Mann ins Gesicht schleuderte,
sie wolle sich scheiden lassen. An all dem waren nur die verfluchten
Republikaner schuld! Sie hatten nicht einmal Achtung vor dem Herrn, beschnitten
die Rechte der Kirche aufs Schändlichste und infizierten die Bürger mit ihren »fortschrittlichen«
Ideen. Es hieß, dass Vermählungen künftig nur noch rechtskräftig seien, wenn
sie auf dem Standesamt geschlossen wurden. Hochzeiten auf einer Behörde, was
konnte es Niedrigeres geben?
Vielleicht, überlegte Dona Alma, sollte sie mit
Eduardo eine lange Europareise unternehmen. Es würde ihm das Herz brechen, wenn
seine Tochter sich scheiden ließe, aber wenn sie es wenigstens in seiner
Abwesenheit täte, würde das seinen Schmerz ein wenig hinauszögern. Außerdem
waren sie hier weder erwünscht noch wurden sie gebraucht – worauf warten, um
endlich das geliebte Portugal wiederzusehen oder dem kranken Kaiser in Paris
ihre Aufwartung zu machen? Sie hatten die Zeit, Vitória das Geld. Und sie würde
ihnen mehr als genug davon geben, wenn sie sich dadurch ihre alten, unnützen
Eltern nur vom Hals schaffen konnte. Das wäre in Vitórias Augen sicher eine »sinnvolle
Investition«. Ah, ihre Tochter und das Geld! Wie hatte es geschehen können,
dass Vitória dem Mammon mehr Zuneigung entgegenbrachte, ihm eine größere
Bedeutung beimaß als den Menschen, die sie von ganzem Herzen liebten? Wann war
sie so berechnend, grausam und kalt geworden? Dona Alma zog das Tuch enger um
ihre Schultern. Es fröstelte sie.
In der Eingangshalle reichte Taís dem Besucher
seinen Hut, seinen Umhang und seinen Stock.
»Ich verstehe einfach nicht, wieso man sich hier
kleidet wie in London oder Paris, nur weil es > Herbst < ist. Bei fünfundzwanzig
Grad des Nachts einen Mantel tragen zu müssen! León, würde ich Ihr Anstandsgefühl
sehr verletzen, wenn ich den Umhang nicht umlegte?«
»Mein Mann hat kein Anstandsgefühl, tun Sie sich
also keinen Zwang an«, antwortete Vitória an Leóns Stelle. Sie schenkte dem
Gast ein bezauberndes Lächeln, mit dem sie ihre Worte entschärfte. »Obwohl es
doch recht frisch ist. Nehmen Sie Ihren Mantel lieber mit.«
»Ja, es kann ja nicht schaden. Ach, liebe Vita,
das war ein sehr gelungener Abend!« Mario Gianecchini ergriff Vitórias Hand. »Vielen
Dank für das ausgezeichnete Mahl und Ihre bezaubernde Gesellschaft. Sind Sie
ganz sicher, dass Sie uns nicht noch ein wenig begleiten wollen?«
»0 ja, ganz sicher. Um nichts auf der Welt möchte
ich Ihnen den Spaß verderben, und das würde ja in weiblicher Begleitung
unweigerlich passieren, nicht wahr? Sie müssten sich wie Kavaliere benehmen –
was für eine Strafe!« Vitória lachte, und der Italiener fiel in ihr Lachen mit
ein.
»Der gute León hat wirklich mehr Glück als
Verstand. Eine so schöne und kluge Frau wie Sie hat der alte Strolch nicht verdient.«
Vitória verkniff sich eine Erwiderung. Warum sollte sie den netten Mario mit
Dingen behelligen, die sich wahrscheinlich völlig seinem Begriffsvermögen
entziehen würden? Der Mann war intelligent, unterhaltsam und sympathisch, und
sie gönnte ihm, nachdem er ihre eigene, Dona Almas und Eduardos deprimierende
Gesellschaft ertragen hatte, eine ausgelassene Nacht unter Männern. In den
Kneipen und Kasinos würde er zweifelsohne weitere starke Motive für zukünftige
Gemälde finden. Und Pedro mit seinem großen Kunstinteresse würde es auch einmal
gut tun, sich mit Mario zu unterhalten und sich ins Nachtleben zu stürzen. In
letzter Zeit war ihr Bruder so verschlossen, so launisch geworden, dass ihn ein
lustiger Herrenabend aufmuntern würde.
»Auf Wiedersehen, Schatz. Ich kann es kaum
erwarten, dir nachher von unseren Abenteuern zu berichten.« León nahm Vitórias
Hand, küsste sie flüchtig, ließ sie wieder herab und beugte sich dabei zu Vitórias
Gesicht vor, um ihr einen angedeuteten Kuss auf die Lippen zu hauchen. Mario
Gianecchini war von der unübersehbaren Sinnlichkeit dieser Geste irritiert, und
er wandte sich schnell ab, um nicht Zeuge weitere ehelicher Intimitäten zu
werden. Dass Vitória kurz davor war, ihrem Noch-Ehemann eine Backpfeife zu
verpassen, sah er nicht mehr.
Zwei Stunden später waren Pedro und León mit
Mario beim Du,
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