Ana Veloso
auf den Flur zu kommen.
»Wie lange noch?«, fragte er den Arzt.
»Diese Nacht überlebt er nicht.«
Luiza und die anderen Angestellten, die vor der
Tür standen, begannen laut zu heulen.
»Dann schlage ich vor, dass wir uns jetzt
nacheinander von ihm verabschieden. Und einen Pfarrer rufen.«
Der Vorschlag wurde auch von Joana für gut
befunden, und so drucksten sie schließlich alle vor der Tür herum, jeder darauf
wartend, dass er an der Reihe wäre. Luiza ging gemeinsam mit den anderen
Schwarzen in das Krankenzimmer, aus dem sie fünf Minuten später tränenüberströmt
wieder herauskamen. Dann durfte Aaron, der mittlerweile gekommen war,
hineingehen, nach ihm João Henrique, dann Vitória und León.
Vitória ergriff die Hand ihres Bruders, die
schlaff und kalt in der ihren lag. Pedros Lider flackerten, und Vitória hätte
schwören können, dass er ihr damit irgendetwas sagen wollte. Sie musste all
ihre Kraft aufbringen, um nicht hemmungslos zu heulen, so wie die Schwarzen vor
der Tür.
»Ich werde dich vermissen, Pedro da Silva«, flüsterte
León. Er streichelte Pedros Hand liebevoll, bevor er sie wieder auf die
Bettdecke legte. Dann erhob er sich, um die Eltern und Joana in diesen letzten
Minuten, die sie und Pedro noch teilen konnten, allein zu lassen. Stumm, allein
durch die Intensität seiner Blicke, bewegte er auch Vitória zum Gehen. Sie
hauchte einen Kuss auf Pedros intakte Wange, dann rannte sie aus dem Zimmer, um
sich draußen auszuweinen.
Dona Alma, Eduardo und Joana liefen aufgeregt in
den Raum, von Vitórias ungewohntem Gefühlsausbruch zu der Annahme verleitet,
Pedro habe sein Leben ausgehaucht. Aber er atmete noch, als Joana sich an seine
Seite setzte.
»Jede Minute des Lebens ohne dich, das vor mir
liegt, werde ich an dich denken. Ich werde dich weiterhin lieben, wie ich dich
immer geliebt habe. Geh mit Gott, mein geliebter Pedro. Auf der anderen Seite
treffen wir uns wieder.«
Als läge in den Worten seiner Frau die
unausgesprochene Erlaubnis, endlich den nicht mehr zu gewinnenden Kampf ums Überleben
aufzugeben, entrang sich Pedros Kehle ein leiser Seufzer. Seine Augen schlossen
sich, er hörte auf zu atmen.
»0 Pedro!« Joana ließ ihren Tränen, die sie
allzu lange zurückgehalten hatte, freien Lauf. Sie warf sich auf den leblosen Körper,
streichelte Pedros Arme und sein Gesicht, als könne sie ihm damit wieder Leben
einhauchen.
Durch den Türspalt verfolgten León und Vitória
die herzergreifende Szene. Über Leóns Gesicht rannen ebenfalls Tränen, als er
Vitória bei der Hand nahm. »Komm, gönnen wir Joana noch ein wenig Zeit allein
mit Pedro.«
Sie gingen in den Salon, und erst dort warf sich
Vitória in Leóns Arme, trommelte ihm mit den Fäusten auf die Brust und rief: »Warum?
Warum?!«
Sie beruhigte sich erst wieder, als es an der Tür
läutete und der Geistliche erschien.
In den nächsten Stunden saßen sich sechs
erwachsene Menschen schweigend gegenüber, starr vor Entsetzen, stumm vor
Trauer. João Henrique hatte die Flucht ergriffen, nicht vor der Gegenwart des
Todes, die ihm vertraut war, sondern wegen der erdrückenden Atmosphäre. Dona
Alma und Eduardo saßen steif auf einem Sofa und blickten auf denselben Punkt an
der Wand, Aaron saß neben Joana auf einem Sessel und tätschelte ihr die Hand,
und Vitória und León hockten unglücklich auf dem zweiten Sofa. Als die Standuhr
neun Uhr schlug, erhob sich León. »Wir sollten jetzt besser fahren.«
»Nein!« Joana wirkte ehrlich erschrocken. »Bleibt,
bitte. Maria do Céu richtet euch das Gästezimmer her. Ich kann den Gedanken
nicht ertragen, allein mit ...« Joana brach in herzerweichendes Schluchzen aus.
Allein mit einer Leiche unter einem Dach zu
sein, das hatte sie sagen wollen, oder? Vitória starrte Joana hasserfüllt an.
Es war immer noch Pedro, ihr heißgeliebter Bruder, Joanas Ehemann, Leóns
Freund. Wie konnte sie Pedro auf das Niveau eines Leichnams reduzieren?
»Natürlich, Joana, wir bleiben hier, wenn du das
gerne möchtest.« León sah Joana an wie ein kleines Kind, das getröstet werden
musste, nur um unmittelbar danach Vitória mit einem tadelnden Blick zu
bedenken, als wolle er sie zur Contenance auffordern. Sie, die Pedro ein Leben
lang gekannt hatte, die ihn gefordert und gefördert hatte, die mit ihm durch
dick und dünn gegangen war hatte sie nicht ein noch größeres Recht darauf, sich
gehen zu lassen? Warum erwartete León von ihr, dass sie sich zusammenriss? Dann
fiel ihr ein, dass sie
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