Ana Veloso
seit zwanzig Jahren nicht mehr in Sklaverei lebten. Er skizzierte die
Gesetzgebung und die Maßnahmen, die zur Eingliederung der Schwarzen in die
Gesellschaft ergriffen worden waren.
Vitória kam zurück und bat Aaron leise um ein
paar Minuten Geduld. Sie wollte León in seinem Diskurs nicht stören, der seine
Zuhörer ganz offensichtlich fesselte. Und sie selber fühlte sich ebenfalls
sofort in seinen Bann geschlagen. Er war ein guter Redner. Was er erzählte,
klang vernünftig, aber nicht moralisierend, es war spannend, kam dabei aber
ohne jede Melodramatik aus, und es war vergnüglich, ohne billige Pointen zu bemühen.
Mit seiner sonoren Stimme sprach León in genau der richtigen Lautstärke und in
perfektem Tempo. Mit den Händen gestikulierte er sparsam, aber umso effektiver.
Er sprach über die noch immer gestörte Beziehung zwischen Nord- und Südstaatlern,
über die aberwitzigen Entgleisungen mancher Diplomaten, die er in Washington
kennen gelernt hatte, und über seine kurze Begegnung mit dem Präsidenten
Chester Arthur, der, genau wie die meisten anderen Amerikaner, die sonderliche
Angewohnheit hatte, den Kaffee auch nachmittags und abends mit Milch zu
trinken. Er erzählte von den großen Industrien, die dem Nordosten Wohlstand,
aber auch triste Landschaften bescherten, und von der Rückständigkeit des Südens,
der weiterhin auf arbeitsintensive Landwirtschaft setzte und sich damit, ohne
Sklaven, schwer tat. Er berichtete von Schwarzen, die sich als Handwerker oder
Bauern eine bescheidene Existenz in der Freiheit aufgebaut hatten, aber auch
von Übergriffen weißer Rassisten auf die Schwarzensiedlungen.
In den Pausen, die León zwischen den Sätzen
machte, hörte man nur das Geklapper von Besteck. Alle genossen das Essen, und
auch Aaron, dem man inzwischen eine gebratene Hähnchenkeule gebracht hatte, aß
mit großem Appetit. Nur León hatte seinen Teller so gut wie gar nicht angerührt.
»Aber bitte, Senhor Castro, essen Sie, bevor der
Braten kalt wird«, forderte Dona Alma ihn auf.
»Bitte verzeihen Sie, ich habe in Erinnerungen
geschwelgt und dabei gegen alle Regeln des Anstands verstoßen – Sie müssen sich
zu Tode langweilen.« Er nahm einen Bissen. »Köstlich. Absolut delikat.« Er
nickte Dona Alma anerkennend zu, die ihrerseits das Lob huldvoll entgegennahm.
»Ich fand Ihren Bericht äußerst kurzweilig«,
rutschte es Vitória heraus. Das stimmte zwar, aber sie hätte es niemals gesagt,
wenn sie nicht so wütend auf ihre Mutter gewesen wäre.
León sah sie mit einem aufreizenden Lächeln an,
sagte aber nichts. »Ja, es war sehr unterhaltsam«, sagte auch Aaron. »Nachher
musst du uns noch ausführlicher von deinen Erlebnissen in den Vereinigten Staaten
berichten. Und davon, ob dort jemals Fälle bekannt wurden, in denen Leute ihre
eigene Mutter verkauft haben ...« Pedro und João Henrique verschluckten sich
beinahe an ihrem Essen, Dona Alma und ihr Mann sahen sich pikiert an. Vitória
wunderte sich.
»Was ...«, setzte sie zu einer Frage an, doch João
Henrique hatte sich wieder gefangen und erklärte: »León hat in einem Artikel,
der heute in der Zeitung erschien, den Fall eines Mannes geschildert, des
Bastards eines Fazendeiros und einer Negerin, der den väterlichen Besitz erbte –
und damit auch seine Mutter. Er schenkte der Frau die Freiheit, aber unser
guter León hier fand den ganzen Vorgang noch nicht abstoßend genug. Er musste
sich auch noch ausmalen, dass der Mann seine Mutter hätte verkaufen können.«
»Wo
stand das? Im > Jornal do Commércio < ?«
Pedro nickte bejahend. Vom unterdrückten Lachen
hatte er Tränen in den Augen.
Vitória ärgerte sich, dass sie nur die
Wirtschaftsseiten intensiv las, den Rest der Zeitung aber immer lustlos überflog.
Diesen Artikel hatte sie definitiv übersehen.
»Es ist die Wahrheit, die traurige Wahrheit«,
sagte León. »Wussten Sie das nicht, Senhorita Vitória? In Brasilien erlaubt das
Gesetz den Verkauf der eigenen Verwandten. Der Fall, den ich in besagtem Artikel
geschildert habe, hat sich genau so zugetragen. Ich habe natürlich die Namen geändert,
zum Schutz der beteiligten Akteure.«
»Das ist billig, León, ehrlich. Gestattet es dir
der Chefredakteur der Zeitung, dir jede Gruselmär auszudenken und dann zu
behaupten, sie sei wahr, du habest nur die Namen geändert?«, warf João Henrique
ein.
»Natürlich gestattet er es. Mehr als das: Er ist
froh über jede wahre außergewöhnliche Geschichte, und bei
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