Ana Veloso
eine Freundin gleichen Alters.
Vitória ritt die Palmenallee entlang, die zum Herrenhaus
von Florença führte. Ihre Gedanken kreisten permanent um den Brief, und so
bemerkte sie nicht die kleinen Anzeichen des Verfalls, der hier bereits Einzug
gehalten hatte. Die palmeiras imperiais wirkten ungepflegt, große, welke
Blätter, die dringend hätten abgeschnitten werden müssen, hingen traurig an
ihnen herab. Weder die abbröckelnde Farbe der Haustür noch die gespenstische
Stille, die über dem Anwesen lag, nahm Vitória zur Kenntnis. Sie läutete an der
verrosteten Glocke, die neben der Tür hing. Nichts. Sie läutete erneut, und
endlich tat sich etwas im Haus. Vitória sah, wie eine Gardine in der oberen
Etage beiseite gezogen wurde.
»Hier ist Vita«, rief sie nach oben.
Ein paar Minuten später öffnete Eufrásia die Tür.
Sie trug noch ihren Morgenmantel, ihre Augen sahen verweint aus. Ihr Haar war
strähnig.
»Um Gottes willen, Eufrásia, was ist passiert?
Ist jemand gestorben?«
»So könnte man es auch nennen.« Eufrásia klang
verbittert. »Komm rein.«
»Warum öffnest denn du die Tür? Wo ist Maria da
Conceição?«
Maria da Conceição war das Hausmädchen der
Soares, eine tüchtige Mulattin mittleren Alters, die so lange auf Florença
gearbeitet hatte, wie Vitórias Erinnerung zurückreichte, und praktisch zur
Familie gehörte.
»Maria wurde verkauft. Genau wie alle anderen
Sklaven. Und unser Land, das Vieh, das Sommerhaus in Petrópolis, das Silber und
das Gemälde von Delacroix ebenfalls. Nur das Wohnhaus ist uns geblieben, außerdem
das Nötigste an Möbeln. Ach, Vita, es ist schrecklich!« Eufrásia brach in Tränen
aus.
Vitória nahm ihre Freundin in die Arme. »Warum
hast du dich nicht bei mir gemeldet? Wir hätten euch helfen können.« Eufrásia löste
sich aus der Umarmung. »Ihr? Ihr seid doch schuld an der ganzen Misere!«
Vitória bemerkte zu spät, was für einen Fauxpas
sie begangen hatte. In der Tat, für Eufrásia musste es den Anschein haben, als
sei die Familie da Silva Urheberin dieses Unglücks. Natürlich war das Unsinn,
schließlich wäre es ohne die Spielsucht von Eufrásias Vater gar nicht erst so
weit gekommen. Aber sie hütete sich, das zu sagen. Später, wenn Eufrásia sich
abgeregt haben würde, war immer noch genug Zeit dafür. Stattdessen sah sie ihre
Freundin ernst an.
»Eufrásia, ich denke, wenn du dich ein wenig
zurechtmachen würdest, sähe die Welt schon viel freundlicher aus. Am besten
gehst du hoch auf dein Zimmer, ziehst dich an, kämmst dir die Haare und wäschst
dein Gesicht. Derweil werde ich uns einen Kaffee kochen. Dann reden wir weiter.
Einverstanden?«
Eufrásia nickte und ging davon. Auf dem Treppenabsatz
hielt sie kurz an, drehte sich zu Vitória um und warf ihr ein gezwungenes Lächeln
zu.
In der Küche fand Vitória auf Anhieb, was sie
brauchte. Im Herd brannte noch Glut, sodass der Kaffee schnell gebrüht war.
Irgendjemand schien sich also um die Küche zu kümmern. Es sah hier relativ
aufgeräumt aus, und Vitória konnte sich nicht vorstellen, dass Eufrásia, ihre
Eltern oder ihre beiden jüngeren Brüder überhaupt in der Lage waren, eine
solche Ordnung zu halten, ein Feuer zu schüren oder Wasser zum Spülen zu
erhitzen.
Im Salon fand Vitória Tassen. Sie deckte
provisorisch einen kleinen Tisch und setzte sich. Auf den rosé-weiß gestreiften
Tapeten waren dort, wo einst Bilder gehangen hatten, hellere Flächen zu
erkennen, deren Konturen von dunkelgrauen Linien umgeben waren. Einzig eine
Fotografie in einem ovalen Kirschholzrahmen hing noch an der Wand. Die Familie
Soares in besseren Tagen: Der Vater steht aufrecht hinter der im Ohrensessel
sitzenden Dona Isabel, die Kinder, zur Zeit der Aufnahme zwischen sieben und
elf Jahre alt, haben sich in Festtagskleidung neben der Mutter auf den
Armlehnen des Sessels drapiert. Was für ein süßes Kind Eufrásia gewesen war!
Vitória wandte den Blick von der Fotografie ab und sah sich weiter im Salon um.
Der Holzfußboden war an den Stellen, an denen früher der Aubusson-Teppich
gelegen hatte, dunkler und weniger abgenutzt als dort, wo das Holz der Sonne
und der Belastung von Schuhen ausgesetzt gewesen war. Die Glasvitrine war noch
da, aber die edlen Stücke, die Figurinen aus Meißen, die Charpentier-Becher,
die Tabatiere aus Sèvres, der böhmische Pokal oder die Doccia-Kanne, die einmal
der ganze Stolz von Dona Isabel gewesen waren, fehlten. Nur an der feinen
Staubschicht, die sich um die nicht
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