Ana Veloso
einem Zug aus und
stellte es scheppernd auf das Tablett. »Wo steckt Luíz? Schick ihn sofort zu
mir, ich habe ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.«
»Luíz ist schwer krank, Sinhá. Er liegt oben im
Bett, mit hohem Fieber.«
Vitória verdrehte die Augen. Hatte sie es nicht
gesagt? Die Schwarzen lagen in ihren Betten! Der Rundgang durchs Parterre würde
warten müssen – zuerst wollte sie die oberen Räume in Augenschein nehmen.
Hoffentlich hatte sich wenigstens keiner unterstanden, ihr altes Zimmer mit
seinen ungewaschenen Ausdünstungen zu schänden! Doch ihre Angst war unbegründet.
Ihr eigenes sowie die Zimmer ihrer Eltern waren zwar in einem ähnlich desolaten
Zustand wie die unteren Räume, sahen aber nicht so aus, als ob irgendjemand sie
bewohnte. Plötzlich hörte sie ein verstörtes »Oh!«. Joana, die zu dem Gästezimmer
geeilt war, in dem sie bei ihrem einzigen Aufenthalt auf Boavista geschlafen
hatte, knallte die Tür zu und sah Vitória resigniert an.
»Du hattest Recht.«
Wie sich herausstellte, hatten zwei Frauen
diesen Raum bezogen, während sich die zwei jüngeren Männer ein anderes Gästezimmer
teilten und Luíz den Luxus eines eigenen Zimmers für sich beanspruchte.
Wutentbrannt riss Vitória das Fenster in dem »Krankenzimmer« auf, damit der
Alkoholgestank entweichen konnte. »Du verkommener alter Drecksack! Schwer
krank, dass ich nicht lache! Ich schlage vor, du gesundest innerhalb der nächsten
halben Stunde, damit du mir in allen Einzelheiten erklären kannst, was du hier
in den vergangenen zweieinhalb Jahren getrieben hast.«
Den Rest des Nachmittages schlenderte Vitória
ziellos über das, was von der Fazenda übrig geblieben war. Die Schäden waren
nicht minder schwer als die am und im Haus, aber hier draußen konnte sie
wenigstens frei atmen. Sie zwängte sich vorsichtig an den abstehenden, unregelmäßigen
Spiralen der durchgerosteten Drahtzäune vorbei, um über die einstige
Pferdekoppel zu laufen. Sie genoss es, wie ihre Füße in der weichen Erde versanken,
und sie scherte sich nicht um ihre Schuhe. Sie fuhr mit der Hand durch die hüfthohen
Gräser, fühlte dabei aber nicht die Gelassenheit, die ein Beobachter in dieser
Geste hätte erkennen können. Sie war schockiert. Sie war wütend. Und vor allem
war sie extrem ungehalten über Joanas Verhalten. Wie konnte sie auch noch
freundlich zu diesem Gesindel sein? Und wie konnte sie sich in aller Seelenruhe
an den wurmstichigen Sekretär in Pedros altem Zimmer setzen und den Inhalt der
Kiste sortieren, die sie idiotischerweise aus Rio mit hierher gebracht hatte?
Briefe, Billetts, Souvenirs wie Eintrittskarten oder Bankettmenüs – alles, was
sie in Pedros Arbeitszimmer an losen Papieren hatte zusammenklauben können,
hatte sie mit nach Boavista genommen. »Vielleicht finde ich einen Hinweis auf
die wahre Ursache seines Todes«, rechtfertigte Joana sich für das zusätzliche
Gepäck, doch Vitória wusste es besser. Joana wollte in alten Erinnerungen
schwelgen.
An der Familiengruft unterbrach Vitória ihren
Spaziergang. Sie setzte sich auf das Mäuerchen, das um das Grab herumführte. Früher
hatte sie das steinerne Denkmal als abweisend und hart empfunden. Jetzt war sie
froh darüber, dass wenigstens hier die Nachlässigkeit der Leute keinen Schaden
hatte anrichten können. Sie las die eingravierten Namen ihrer toten
Geschwister. Pedro sollte hier liegen, nicht in Rio. Und sie selbst? Wo würde
man sie, wenn sie vor ihrer Zeit abtreten sollte, beisetzen? Sollte sie
vielleicht in ihrem Testament bestimmen, dass sie hier bestattet zu werden wünschte?
Vitória lief es kalt den Rücken herunter, und mit einem Schütteln verdrängte
sie den Gedanken an ihre Sterblichkeit. Sie wollte leben und steinalt werden!
Die Bewegung an der frischen Luft hatte ihr gut
getan. Als Vitória zurück ins Haus kam, war sie entspannter. Die Atmosphäre
erschien ihr nicht mehr ganz so erdrückend wie vorhin noch, nicht mehr ganz so
deprimierend.
»Vita?«, rief Joana aus dem Esszimmer.
Vitória streifte ihre schmutzigen Schuhe ab und
ging auf Strümpfen zu ihr.
»Ich habe etwas gefunden, das dich interessieren
dürfte«, sagte Joana lächelnd. »Er hat anscheinend vergessen, ihn
weiterzuleiten.« Sie reichte ihrer Schwägerin den noch immer verschlossenen und
an León adressierten Umschlag, den Vitória unter Millionen von Briefen auf
einen Blick erkannt hätte.
Joanas Lächeln verwandelte sich in einen
Ausdruck tiefer Besorgnis, als sie Vitórias
Weitere Kostenlose Bücher