Ana Veloso
ich überzeugt.«
»Und noch etwas: Ich möchte zur Premiere gern
dein rotes Kleid tragen. Sílvia kann es ein wenig umarbeiten, damit es nicht
gar so hausbacken wirkt.«
Vitória schluckte. Aber gut, wenn das der Preis
dafür war, dass sie León wiedersehen durfte, wollte sie ihn bereitwillig
zahlen. Dennoch ärgerte sie Eufrásias Forderung. Mit welchem Recht nahm sie
sich heraus, auch noch Bedingungen zu stellen, wo es doch sie, Vitória, war,
die Eufrásia zu dieser willkommenen Ablenkung verhalf? Auch der kleine
Seitenhieb nagte an ihr. Ihr rotes Ballkleid war doch nicht hausbacken! Und an
Eufrásia sähe es nicht halb so gut aus wie an ihr selber.
»Von mir aus. Aber mach die Änderungen hinterher
wieder rückgängig, sonst fällt es meiner Mutter auf.«
Die nächsten Stunden verbrachten die Mädchen
damit, sich ihre Reise in den schönsten Farben auszumalen. In der berühmten sorveteria »da Francesco« wollten sie ein Eis essen, in der confeitaria »Hernandez«
nach Herzenslust Schokoladentörtchen und andere süße Leckereien naschen, und in
den eleganten Boutiquen der Rua do Ouvidor würden sie die Auslagen betrachten
und sich neue Ideen für ihre eigene Garderobe holen. Schirme, Hüte, Handschuhe,
Tücher, Taschen, Spitzenkragen und Strümpfe – was war zurzeit modern, was
trugen die Damen in der Großstadt?
Die Vorfreude brachte sie einander wieder näher.
Vitória dachte an die alten Zeiten zurück, als sie beide noch unzertrennlich
gewesen waren. Es hatte kein Geheimnis gegeben, das sie der Freundin nicht
anvertraut hätte. Stundenlang konnten sie die Köpfe zusammenstecken und sich über
das dümmliche Gesicht eines Jungen amüsieren, den sie aufgezogen hatten, oder
darüber, wie sie ihre Eltern hinters Licht geführt hatten. Nie wurden sie es müde,
sich über ihre Brüder zu beklagen, über die Schwächen ihrer Lehrer herzuziehen
oder sich Streiche auszudenken, die sie den Haussklaven spielen konnten. Wenn
eine bei der anderen übernachtet hatte, was unzählige Male der Fall war, hatten
sie sich unter der Bettdecke nächtelang Dinge von sich erzählt, die die andere
längst wusste – und doch waren sie es nie leid geworden, alles immer und immer
wieder durchzugehen. Sie waren wie Schwestern gewesen, bis ... Ja, bis wann
eigentlich? Vitória wusste nicht, wann die Vertrautheit zwischen ihr und Eufrásia
nachgelassen hatte. Einen konkreten Auslöser hatte es nicht gegeben. Ganz
schleichend hatte sich zwischen ihnen eine Grenze gebildet, die es nicht zu übertreten
galt. Plötzlich hatten sie einander nicht mehr jeden Gedanken mitgeteilt, und
intime Geständnisse wurden fortan nur mehr dem Tagebuch anvertraut, nicht mehr
der Freundin. Dennoch blieben sie Komplizinnen, bis die Rivalität zwischen
ihren Vätern ihrer Freundschaft einen neuerlichen Stoß versetzte.
Aber heute kam es beiden vor, als seien sie
wieder dreizehn Jahre alt und von den Unbilden des Lebens völlig unberührt. Genüsslich
schmiedeten sie Pläne für ihre Reise. Den Kaiserpalast mit den neuen Anbauten
wollten sie sehen, natürlich, ebenso den erweiterten Jardim Botánico, in
dem eine ganze Reihe seltener und kostbarer Bäume und Blumen angepflanzt worden
war. Und den Jóquei Clube – keineswegs würden sie auf den Besuch eines
Pferderennens verzichten. Aber auch die Anleger am Hafen und die Stadtviertel,
in die sie in Begleitung ihrer Eltern nicht einen Fuß hätten setzen dürfen,
wollten sie gerne einmal in Augenschein nehmen. Ihre Brüder hatten sich viel zu
oft mit zweideutigen Bemerkungen wichtig gemacht, endlich wollten sie nun
selber sehen, was es mit der Rua da Candelária auf sich hatte. Und einen
Ausflug zum Strand von Copacabana wollten sie machen. Neuerdings gingen die
Leute dort ins Wasser, weil es als gesundheitsfördernd galt.
Männer und Frauen gemeinsam – und zwar in
Badekleidung, die mehr zeigte, als sie verbarg!
»Eufrásia, ich fürchte, das werden wir alles gar
nicht schaffen. Länger als drei Tage können wir nicht wegbleiben.«
»Du hast Recht. Aber ist es nicht herrlich, sich
das alles auszumalen?«
Das fand Vitória auch. Davor jedoch waren noch
viele andere, praktischere Dinge zu regeln. Vitória musste Pedro von ihrem
bevorstehenden Besuch in Kenntnis setzen, und sie musste León eine Antwort
schicken. Sie mussten Fahrkarten für den Zug besorgen, und vor allem mussten
sie ihre Eltern von der absoluten Notwendigkeit dieser Reise überzeugen.
Es war bereits Nachmittag, als Vitória und
Weitere Kostenlose Bücher