Ana Veloso
Eufrásia
sich gemeinsam an einen Entwurf für den Brief an León setzten.
»León«, schrieb Vitória, die von der
Vorfreude auf die Reise ganz aufgekratzt war, »trotz deiner Aufsässigkeit
will ich dir deine Bitte gewähren.«
»Duzt ihr euch etwa?«
»Nein, aber ich sollte mich zumindest an die
Spielregeln halten, oder? Und in dem Spiel bin ich die Sinhazinha, er ist der
Untergebene.«
»Schon, aber ich finde, das Du geht zu weit.«
Sie diskutierten ausgiebig über diesen Punkt,
bis Vitória sich durchgesetzt hatte. Sie blieb beim Du, das ihr eine
Vertraulichkeit erlaubte, die unter anderen Umständen undenkbar gewesen wäre. Du
hast diese Großmütigkeit meinerseits allein der Intervention meiner teuren
Freundin Eufrásia zu verdanken, die mich von der Notwendigkeit überzeugte,
dieser Uraufführung beizuwohnen. Sie selbst wünscht ebenfalls zur Premiere zu
kommen, besorge ihr also bitte noch eine Karte. »Vita, das geht nicht! Du
kannst ihm doch nicht ernsthaft in diesem Ton schreiben wollen.« Eine
neuerliche Debatte begann, wieder hatte Vitória die besseren Argumente.
»Weißt du, Eufrásia, streng genommen ist dieser
Brief noch viel zu milde. Würdest du etwa > bitte < sagen, wenn du einem
Sklaven etwas aufträgst?«
»Na ja, streng genommen hättest du erst gar
keine Korrespondenz mit einem Sklaven. Oder kennst du einen, der lesen und
schreiben kann?«
Das, fuhr es Vitória durch den Kopf, war
allerdings wahr. Ob sie sich konsequenterweise in dem Brief überhaupt nicht auf
dieses Spielchen mit León einlassen sollte? Ach was, dafür war es viel zu
spannend. Sie schrieb weiter:
Denke außerdem daran, uns eine Droschke zum
Bahnhof zu schicken. Wir treffen am Nachmittag des xx. Oktober in Rio ein.
Zu Hause, sobald sie die Genehmigung ihrer
Eltern und die genauen Reisedaten hätte, würde sie den Brief ins Reine
schreiben und das korrekte Datum eintragen.
Grüße an Nhonhô und die Herren João Henrique
de Barros und Aaron Nogueira. Und dass du sie nicht wieder mit frechen
Bemerkungen ärgerst!
Mit Schwung setzte Vitória unter das Blatt mit
den Tintenklecksen, durchgestrichenen Wörtern und dem unleserlichen Gekritzel
ihren ganzen pompösen Namen:
Vitória Catarina Elisabete da Silva e Moraes.
Ja, das war gut. So würde sie unterzeichnen, und
mit Hilfe einer vernünftigen Feder bekäme ihre Unterschrift noch viel mehr
Elan. »Ich glaube nicht, dass du den Brief jemals abschicken wirst. Zu Hause
werden dich Zweifel überfallen, und nachher schreibst du ihm nur ein paar
banale Zeilen.«
»Natürlich schicke ich ihn ab, es war doch
schließlich auch meine Idee, ihn so und nicht anders zu schreiben. Aber bitte,
wenn du mir nicht glaubst: Lass ihn uns direkt hier ins Reine schreiben und
gleich abschicken.«
Eufrásia rannte sofort auf ihr Zimmer und holte
aus ihrem Louis XV.-Sekretär, den sie irgendwie vor den Gläubigern hatte retten
können, einen Bogen hellblauen Büttenpapiers, einen Umschlag, Tinte und Feder.
Sogar eine Briefmarke fand sie noch. Sie musste sich beeilen – bevor es sich
Vita womöglich anders überlegte. Das war ein Abenteuer nach ihrem Geschmack!
Meine Güte, wenn sie diesen Brief wirklich so schrieb und abschickte ...
Zurück im Salon beobachtete sie Vitória. Sie
kaute auf ihrer Unterlippe, während sie versuchte, ihrer Handschrift etwas beiläufig
Erwachsenes zu geben. Doch der erste Versuch scheiterte. Sie zerriss das Papier
und warf es wütend auf den Boden.
»Eufrásia, ich kann's nicht! Meine Schrift sieht
aus wie die eines braven Kindes, das Schönschreiben übt. Hast du noch mehr
Briefbögen?«
»Ja, aber vielleicht übst du erst einmal auf
einem einfachen weißen Blatt, bevor du mir mein letztes Papier ruinierst.«
Sie übte. Nach dem vierten Anlauf war Vitória
mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden.
»Was hältst du davon? Das sieht doch irgendwie
damenhaft aus, ohne zu verschnörkelt zu sein. Lässig, aber nicht nachlässig.«
Nachdem der Brief geschrieben und das Datum willkürlich eingesetzt war, steckte
Vitória ihn in einen Umschlag, den sie in der derselben, mühsam einstudierten
Schrift adressierte. Eufrásia erhitzte Siegellack, ließ einen Klecks davon auf
die Rückseite des Umschlags fallen und drückte Vitórias Siegelring mit dem
Wappen des Barão de Itapuca hinein. Dann klebte sie die Marke auf den Umschlag
und legte den Brief auf die Anrichte.
»Ich werde ihn abschicken. Es ist ohnehin allerhöchste
Zeit, dass ich mal hier herauskomme.
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