Ana Veloso
die auf der gepolsterten Bank ganz in der Nähe des Beichtstuhls
saß. Vitória glaubte nicht, dass sie oder der Padre in der vergangenen halben
Stunde anders als flüsternd gesprochen hatten, aber beschwören konnte sie es
nicht. Was Dona Alma wohl alles gehört hatte? Aber gut: Dann hatte sie es eben
gehört. Sie warf ihrer Mutter einen bitterbösen Blick zu und zischte: »Wer
suchet, der findet.« Dona Alma blickte verständnislos. Also übersetzte Vitória,
schon im Fortgehen, ihre Anmerkung: »Wer lauschet, der höret.« Sie raffte ihre
Röcke und lief nach draußen.
Vor dem Grab ihrer alten ama fand sie sich
wieder. Der Friedhof lag gleich neben der Kapelle. Nur Familienmitglieder sowie
Sklaven, die quasi zur Familie gehörten, wurden hier beigesetzt. Viele Gräber
waren es noch nicht, denn Vitórias Vorfahren waren alle in Portugal gestorben
und begraben. Das Familiengrab, ein marmornes Mausoleum, trug die Namen ihrer fünf
toten Geschwister. Etwas abseits davon lagen die schlichten Gräber von rund
zehn Sklaven, von denen Vitória nur zwei gut genug gekannt hatte, um ihren
Verlust betrauern zu können: den Viehhirten João, der ihrem Vater vor vielen
Jahren das Leben gerettet hatte, sowie ihre ama Alzira, die ihr Amme,
Kindermädchen und Spielgenossin gewesen war und mehr Mutter, als Dona Alma es
jemals war. Alzira war vor einem Jahr gestorben, und Vitória bezweifelte, dass
sie jemals wieder eine Sklavin haben würden, die so klug, so warmherzig und
zugleich streng war. Vor Alzira hatten alle auf Boavista Respekt gehabt,
einschließlich ihrer Eltern. Kein Geheimnis ließ sich vor ihrem scharfen Blick
verbergen, aber auch keines war irgendwo sonst so sicher wie bei ihr. Alzira hätte
sie verstanden, sie hätte ihr Trost und Rat spenden können. Ohne Alziras
ausgleichendes Temperament, ohne ihre weisen Entscheidungen war die kleine Welt
von Boavista irgendwie aus den Fugen geraten.
Am Abend desselben Tages ließ sich Vitória beim
Abendessen entschuldigen: Sie habe entsetzliche Kopfschmerzen und nicht den
geringsten Appetit. In Wahrheit fehlte ihr nichts, sah man einmal davon ab,
dass sie Angst vor einer neuerlichen Standpauke ihres Vaters hatte. Bestimmt
hatte Dona Alma ihm von Vitórias Frechheit erzählt, die Vitória im Nachhinein
aus tiefstem Herzen bedauerte. Sie war zu weit gegangen, als sie ihre Mutter
des Lauschens bezichtigte. Noch dazu musste sie fürchten, dass Padre Paulo
inzwischen jede Silbe ihres Gesprächs weitererzählt hatte, sodass ihr Vater genügend
weitere Gründe hatte, ihr den Kopf zu waschen.
Vitória setzte sich an ihren Sekretär. Vor ihr
lagen die beiden Briefe, die sie mittlerweile von León erhalten hatte. Der
erste, den sie auch Eufrásia gezeigt hatte, war vom vielen Auseinander- und
Zusammenfalten bereits speckig, und an den Faltkanten war das Papier schon so
weich, beinahe samtig geworden, dass Vitória fürchtete, er werde sich bald auflösen.
In dem zweiten, sehr kurzen Brief hatte León sie davon in Kenntnis gesetzt,
dass er nach seiner Rede in Conservatória einen Abstecher nach Boavista plane.
Was für eine dürftige Korrespondenz! Und doch reichte sie Vitória, um sich
wieder und wieder damit zu beschäftigen, jedes Wort neu zu interpretieren,
immer andere Bedeutungen herauszulesen. Sie war wütend auf sich, weil sie die
Notiz, die er hinterlassen hatte, als sie sich von Miranda hatte verleugnen
lassen, nicht mehr besaß. Wer weiß, welche geheimen Botschaften sie da noch hätte
herauslesen können?
Noch intensiver aber beschäftigte Vitória die
Post, die sie nicht erhalten hatte. Nachdem sie León geschrieben hatte, dass
sie nicht nach Rio kommen würde, hatte sie nichts mehr von ihm gehört. War das
darauf zurückzuführen, dass sie ihre Absage bewusst unterkühlt formuliert
hatte? Dass sie mit keiner Silbe ihren beschämenden Hausarrest erwähnt und ihn über
die Gründe ihres Fernbleibens im Unklaren gelassen hatte? Oder war seine
Antwort in die falschen Hände gelangt? Wenn die Eltern ihr schon Besuch
verweigerten, würden sie womöglich auch ihre Post abfangen. Plötzlich hörte Vitória,
dass man nach ihr rief. Sie verstaute die beiden Blätter schnell in einer
Schublade ihres Sekretärs und ging zur Tür, um zu horchen, was im Haus vor sich
ging. Niemals würde Dona Alma gestatten, dass laut nach irgendwem gerufen
wurde, wenn nicht besondere Umstände vorlagen.
»Vita!« Ihr Vater riss die Tür auf und schrak
zurück, als Vitória direkt vor ihm
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