Ana Veloso
stand.
»Herrgott, Kind, was stehst du hier herum? Warum
antwortest du nicht?«
»Ich fühle mich unwohl. Ich kann keinen Bissen
herunterbringen.«
»Wer redet hier vom Essen? Félix ist
verschwunden. Hast du eine Ahnung, wo er stecken könnte?«
»Bestimmt nicht hier in meinem Zimmer.«
»Verschone mich mit deinen unverschämten
Bemerkungen. Komm mit in den Salon und hör dir an, was José zu berichten hat.
Vielleicht hast du ja eine Idee, wo der Junge sein könnte.«
Der Kutscher stand mit gesenktem Kopf mitten im
Raum und war den Tränen nahe.
»Ich habe ihn beim Apotheker abgesetzt. Er
sollte die Arznei für Dona Alma holen und danach in der Musikhandlung Ihre
Noten besorgen. Ich bin währenddessen zum Bahnhof gefahren, um das Paket aus
Rio abzuholen, das mit den Stoffen und Bändern, die Sie bestellt hatten. Der
Junge sollte dann zum Bahnhof kommen, wo ich mit der Kutsche wartete. Aber er
kam nicht. Ich habe zwei geschlagene Stunden gewartet, dann bin ich durch die
ganze Stadt gefahren und habe alle Leute nach Félix gefragt, doch niemand hatte
ihn gesehen. O Gott ...«
»Nun reg dich nicht auf«, versuchte Vitória den
Alten zu beruhigen. »Wahrscheinlich taucht er jeden Augenblick hier auf, mit
einem frechen Grinsen und einem plausiblen Grund für seine Verspätung. Er wird
dich vielleicht am Bahnhof nicht gefunden haben, vielleicht kam er auch erst,
als du schon fort warst. Womöglich ist er jetzt zu Fuß auf dem Weg hierher, und
das geschähe ihm ja nur recht.«
Vitória war nicht halb so zuversichtlich, wie
sie klang. Auch sie fand Félix' Verschwinden Besorgnis erregend. So etwas war
noch nie vorgekommen, der Junge hatte sich bisher durch große Zuverlässigkeit
ausgezeichnet. Und wenn er sich wirklich in einer Notlage befinden sollte, wenn
er das Opfer eines Raubs oder eines Unfalls geworden war, würde er Schwierigkeiten
haben, sich mitzuteilen. Gleich morgen Früh musste jemand mit José in die Stadt
fahren und weitere Nachforschungen anstellen. Am besten sie selbst – dies war
nun wirklich eine Ausnahmesituation, in der ihr Vater unmöglich auf ihrem
Hausarrest bestehen konnte.
Während sich dank dieser Aussicht in Vitória
neue Lebensgeister regten, sackte José immer mehr in sich zusammen.
»Vita, denk nach. Vielleicht hat er noch einen
anderen Auftrag für dich erledigt?«, warf Eduardo ein.
»Hm. Außer den Noten und den Stoffen war nichts
zu besorgen. Vielleicht ist er noch bei der Konditorei vorbeigegangen. Dona
Evelina hat den Jungen in ihr Herz geschlossen und verwöhnt ihn jedes Mal mit
Pralinen und anderen Leckereien. Aber das würde sein Verschwinden ja auch nicht
erklären.«
»Sinhá Vitória, ich habe bei Dona Evelina
nachgefragt. Dort hat er sich nicht blicken lassen«, erklärte José.
»Er muss geflohen sein«, meldete sich nun
erstmals Dona Alma zu Wort, die bisher nur schweigend auf dem Sofa gesessen und
zugehört hatte.
Das kann ich mir beim besten Willen nicht
vorstellen, Mãe. Und welche Chance hätte er schon? Er mag ja schlau sein, aber
er ist auch stumm. Damit würde man ihn sofort entlarven.«
»Viel können wir jetzt ohnehin nicht machen. Ich
schlage vor, dass wir bis morgen Früh abwarten. Wenn Félix bis dahin nicht
wieder aufgetaucht ist, werden wir mit einer groß angelegten Suche beginnen.
Du, José, meldest dich gleich um sieben hier im Haus.« Mit einem Kopfnicken
entließ Eduardo den Kutscher.
José schlich sich davon, wie gebeugt unter der
Last der Schuld, die er einzig bei sich suchte. Insgeheim teilte er Dona Almas
Verdacht, der Junge könne die Flucht gewagt haben, doch er würde mit niemandem
darüber reden, bevor er sich ganz sicher war. In der Kammer, die er gemeinsam
mit Félix bewohnte, würde er den Beweis finden. Denn eine Sache gab es, die Félix
wie seinen Augapfel hütete. Wenn dieser Gegenstand nicht mehr dort lag, wo Félix
ihn versteckte, dann, das wusste José, war er geflohen.
Zögernd öffnete José die knarrende Tür zu seiner
und Félix' Kammer. Er stellte die Öllampe auf dem kleinen wackligen Tisch ab,
schob von innen den Holzriegel vor die Tür und schloss die Fensterläden. Dann
setzte er sich auf sein Bett, ein schlichtes Eisengestell, auf dem eine
Strohmatte lag. Es widerstrebte ihm zutiefst, sich an Félix' Versteck zu
schaffen zu machen. Der Junge hielt diesen Ort für geheim, aber José, der mit
zunehmendem Alter immer mehr unter Schlaflosigkeit litt, hatte den Jungen schon
oft dabei beobachtet, wie er seine Schätze
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