Ana Veloso
Ungewissheit einfach
weggeworfen? Schon jetzt fehlten ihm sein Freund Betinho, der so virtuos die Flöte
spielte, und die mütterliche Fürsorge von Mariana. Er vermisste die Geräuschkulisse
der Fazenda, auf der er geboren war, die lauten Rufe Pereiras im Hof, das
Wiehern der Pferde, die von Gesang begleitete Rückkehr der Sklaven von den
Feldern, die vulgären Wutausbrüche der alten Zélia, die bis in die casa
grande hineinschallten. Hier, tags wie nachts, unterwegs oder während der
Rasten, war nie mehr als gedämpftes Murmeln zu hören, keine Musik, kein lauter
Ton. Die Stille der Angst.
Sogar das Geschrei der Babys wurde leiser, auch
ihnen schien allmählich die Kraft auszugehen. Alle waren von den Strapazen des
Marschs und von der einseitigen Kost geschwächt. Seit seiner Flucht hatte Félix
nichts anderes gegessen als trockene Maisfladen, die die Frauen bei der Rast
buken. Von dem Gürteltier, das drei Burschen im Wald erlegt hatten, war für ihn
nicht viel abgefallen, und die Früchte der Bäume waren ihnen unbekannt, sodass
niemand wagte, davon zu kosten. Voller Wehmut machte sich Félix bewusst, dass
die Essensreste der Herrschaft, die Luiza ihm in der Küche aufwärmte,
wahrscheinlich besser als alles gewesen waren, wovon er sich in Zukunft ernähren
würde. Allein bei dem Gedanken an die Pasteten, Suppen und Braten lief ihm das
Wasser im Mund zusammen.
Keiner von Félix' Weggefährten hatte jemals
etwas anderes gegessen als das, was auf den Fazendas angebaut wurde. Keiner von
ihnen hatte jemals in Freiheit gelebt, keiner hatte je Entscheidungen treffen
oder in der Wildnis um sein Überleben kämpfen müssen. Der Einzige, der den widrigen
Umständen hätte gewachsen sein können, war ihr Anführer A. Der pockennarbige
schwarze Hüne war León Castros Mittelsmann und hatte die Aufgabe, den
armseligen Zug von Vassouras nach Caxambú zu bringen, von wo aus sie ein
anderer Führer weiter nach Três Corações, dem Ziel ihres Marschs, geleiten würde.
Doch auch Zé waren die Pflanzen des Waldes nicht geheuer. »Das da«, dabei
zeigte er auf eine runde Frucht mit stacheliger Schale, »könnt ihr essen,
behauptet der dono. Aber wenn's nach mir geht, esst ihr es lieber nicht,
sonst lasst ihr noch euer Gedärm auf der Strecke zurück.« Er brach in dröhnendes
Gelächter aus.
Keiner aß die sonderbare Frucht. Auch in allem
anderen hielten sie sich an die Ratschläge von A, die ihm, dachte Félix
insgeheim, nicht von seiner Erfahrung in der Freiheit, sondern von seiner
Beschränktheit diktiert wurden. Schließlich war auch A nur ein ehemaliger
Sklave, dem man eine gewisse Unsicherheit anmerkte, ganz gleich, wie massig und
imposant er auch daherkommen mochte. A verhinderte, dass sie sich wuschen, weil
er Reinlichkeit für ein Zeichen von Verweichlichung hielt, wie sie nur Weißen
zu Eigen war. Er verbot ihnen, Fische zu fangen, weil die Flüsse, an deren Ufer
ihr Weg sie regelmäßig entlangführte, angeblich alle aus heimtückischen Strömungen
bestanden. Außerdem hielt A sie allabendlich an, in Ermangelung eines
Opferhuhns wenigstens eine Feder vor sich in die Erde zu stecken und ihm dabei
geheimnisvolle Beschwörungsformeln nachzusprechen. Es war eine der wenigen
Gelegenheiten, bei denen Félix seine Stummheit für einen echten Vorteil hielt.
Zés Rituale waren Félix fremd. Die geheimen
Zusammenkünfte auf Boavista, bei denen afrikanischen Gottheiten gehuldigt wurde
und bei denen er trotz seiner Jugend geduldet wurde, weil er stumm war, hatten
ganz anders ausgesehen und anderen Gesetzen gehorcht. Aber es wunderte ihn
nicht. Die Sklaven waren aus vielen Ländern Afrikas nach Brasilien verschleppt
worden, und im Laufe der Generationen konnten sich die verschiedenen Kulte auf
jede nur erdenkliche Weise weiterentwickeln. Wer weiß, vielleicht hatte A seine
Zeremonie ja auch noch mit indianischen Riten und Formeln angereichert.
Immerhin lag Esperança, das Ziel ihrer Reise, mitten in Guaraní-Gebiet.
Die meisten seiner Reisegenossen jedoch waren
froh über die mystischen Formeln, die Zé aufsagte. Jede Hilfe war ihnen
willkommen, selbst wenn sie von Indio-Gottheiten kam. Und wo sonst sollten die
Götter wohnen, wenn nicht hier, in den steilen Hängen der Serra da Mantiqueira,
die von Grün überwuchert waren und in denen es von der Gegenwart unheimlicher
Geschöpfe nur so zu wimmeln schien? Selbst Félix mit seiner pragmatischen Art
meinte den Hauch einer irgendwie überirdischen Existenz zu spüren, doch
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