Ana Veloso
vertiefen. »Lassen Sie uns lieber über
etwas anderes reden. Erzählen Sie mir von sich, von Ihrer Arbeit, Ihren
Freunden.«
»Soll ich mit dem Tiefpunkt der letzten Monate
beginnen?« Als Vitória nickte, fuhr er fort: »Es begab sich also, dass ich eine
holde Maid besuchen wollte, die in einem abgelegenen Haus in einem abgelegenen
Tal wohnt. Das schöne Fräulein hatte mir diesen Besuch gewährt, doch als ich
vor der Tür stand, ließ sie sich verleugnen.« Vitória sah ihn zerknirscht an.
»Ich war ... unpässlich. Es tut mir Leid, dass
Sie den Weg umsonst gemacht haben. Und jetzt hören Sie schon auf damit.
Berichten Sie mir lieber von dem Höhepunkt des Jahres.«
»Das war ein Tag im September. Als ich einen
Freund besuchen wollte und mir eine freche Göre von unbeschreiblicher Schönheit
die Haustür vor der Nase zuknallte. Ich habe mich auf der Stelle unsterblich in
dieses göttliche Geschöpf verliebt.«
Vitória schluckte. War das eine Liebeserklärung?
Oder nahm er sie nur wieder auf den Arm?
»Und, erwidert das > göttliche Geschöpf < Ihre Gefühle?«
»Wenn ich das nur wüsste. Das wunderschöne Mädchen
ist ein wenig kratzbürstig, und selbst wenn es in Liebe zu mir entbrannt
wäre, was ich mir niemals anmaßen würde zu
hoffen, würde es mir dies eher durch Missachtung meiner Person als durch Worte
der Wertschätzung zeigen.«
»Vielleicht liegt das daran, dass das Mädchen
sich der Aufrichtigkeit Ihrer Gefühle nicht sicher ist und sich keine Blöße
geben will.«
»Möglich. Dabei bräuchte sie mir nur tief in die
Augen zu sehen, um zu erkennen, dass ich ihr auf immer verfallen bin.«
Vitória sah León an, wandte den Blick aber
sofort wieder ab. Ihr war unbehaglich zumute bei der Wendung, die ihr Gespräch
genommen hatte. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass León sie nur
foppte.
Schweigend fuhren sie den gleichen Weg wieder
zurück, den sie gekommen waren. Diesmal lag das Meer rechts von ihnen. Linker
Hand ragte über ihnen die Kirche Nossa Senhora da Glória auf, wenig später
passierten sie den imposanten Komplex des Arsenal da Guerra. Der Verkehr wurde
dichter, und aufgrund der geringeren Geschwindigkeit ihrer Droschke konnte Vitória
nun wieder den Sonnenschirm besser halten. Und sie hielt ihn so niedrig, dass
kein Passant ihr Gesicht sehen konnte. Man wusste ja nie. Zwar hatte sie nicht
sehr viele Bekannte in Rio, und die Wahrscheinlichkeit, dass diese sich
ausgerechnet um diese Zeit hier draußen aufhalten sollten, war sehr gering,
aber immerhin fuhren sie jetzt mitten durchs Zentrum der Stadt. Links sahen sie
den Paco Imperial, die kaiserliche Stadtresidenz, einen Block weiter lag die hübsche
Kirche Nossa Senhora da Lapa dos Mercadores. In der Guanabara-Bucht vor der Ilha
Fiscal schaukelten unzählige Segelschiffe, Paquetes und Fischerboote, Vorboten
des eigentlichen Hafens, der noch weiter nördlich lag.
Als sie das Stadtzentrum durchquert hatten, kündigte
sich ihnen wieder der Hafen durch seinen Geruch an. Hätte der Gestank ihnen
nicht so zugesetzt, hätten sie vielleicht die Schönheit der Szenerie besser
wahrgenommen. Denn die Guanabara-Bucht, jener gigantische Naturhafen, der fast
vollständig von hügeligem Land umschlossen ist, war gesprenkelt mit Schiffen,
die hier ankerten und die Zeugnis ablegten von der immensen Bedeutung der
Stadt. Rio de Janeiro war der wichtigste Hafen Südamerikas und die Stadt selber
die größte Metropole des Kontinents.
Nach Säo Cristóvão war es jetzt nicht mehr weit.
León zog seine Taschenuhr hervor. »Drei Uhr. Sie werden bestimmt schon
vermisst.«
Vitória zuckte mit den Schultern. »Und wenn
schon. Ich sage, dass ich in der Bibliothek war.«
»Wann sehe ich Sie wieder?«, fragte León.
»Mein Geburtstag fällt nächstes Jahr genau auf
den Karnevalssamstag. Und weil dann auch Pedro und Joana ihre Verlobung bekannt
geben, haben wir gleich drei Gründe zum Feiern. Wir werden deshalb auf Boavista
ein großes Kostümfest geben. Ich würde mich freuen, wenn Sie auch kämen.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
»Geben Sie mir Brief und Siegel darauf?«
»Nein, das nicht. Eine offizielle Einladung
werden Sie wohl eher von Pedro erhalten. Das verstehen Sie doch, oder?«
León antwortete nicht. Er lächelte Vitória nur
mit einem seltsam wehmütigen Blick an. Dann beugte er sich zu ihr hinüber, als
wolle er ihr etwas ins Ohr flüstern. Sie beugte den Kopf ebenfalls zu ihm hin,
um ihn besser hören zu können.
»Meine
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