Ana Veloso
sitzen – die meiste Zeit wird er am Büfett verbringen.
Trotzdem, der Stuhl muss weg. Sag Humberto Bescheid, er soll ihn mit in die
Tischlerei nehmen. Vielleicht schafft er es ja sogar noch, ihn bis übermorgen
wieder zu reparieren.«
Miranda nickte und ging. In diesem Augenblick hörte
Vitória draußen die Kutsche vorfahren. Sie raffte ihren Rock und lief so
schnell sie konnte zur Tür.
Joana wirkte von der Reise etwas mitgenommen,
strahlte aber übers ganze Gesicht, als sie Vitória sah. Auch Pedro freute sich,
wieder auf Boavista zu sein.
»Joana, Pedro, endlich! Wundert euch nicht darüber,
wie es hier aussieht. Wir haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt, um für
den großen Ansturm gewappnet zu sein«, erklärte Vitória, während sie den beiden
vorausging.
Als sie im Salon ankamen, sank Joana auf einen
der Stühle, die an der Wand aufgereiht waren, und sah sich mit großen Augen um.
»Das ist ... umwerfend! Von außen ist Boavista schon beeindruckend, aber es
bereitet einen nicht darauf vor, was einen hier drinnen erwartet. Ich hatte mir
das Ganze viel rustikaler vorgestellt.« Ihr Blick glitt über die elegant
tapezierten Kassettenwände und den filigran gearbeiteten Stuck zu der
prachtvollen Rosette, in deren Mitte ein gigantischer Kronleuchter hing. Dann
beugte sie sich nach vorn, um durch die geöffnete Tür in den angrenzenden Raum
zu sehen. »Fantastisch!« Joana stand auf, ging nach nebenan ins Esszimmer und
staunte auch dort. In den Kassetten der Wände hingen, anders als im Salon,
keine isolierten, gerahmten Gemälde, sondern sie waren mit
Trompe-l'œil-Malereien verziert, die idyllische Land- und Jagdszenen in
pastelligen Tönen zeigten. Dieser Wandschmuck verlieh dem Raum etwas Verträumtes,
Märchenhaftes.
»Normalerweise sieht das alles ganz anders aus«,
sagte Vitória. »Warte erst ab, bis du den Raum in seinem eigentlichen Zustand
kennen lernst. Jetzt, mit den zusammengerollten Teppichen und den wüst
zusammengewürfelten Stühlen und den ungedeckten Tischen, bietet das Ganze ja
einen eher trostlosen Anblick.«
»Aber nein, überhaupt nicht.« Joana hatte
offensichtlich die Erschöpfung von der Reise bereits vergessen, denn sie drehte
sich übermütig im Kreis und ließ ihren Rock dabei hochfliegen. »Ach, Vita, ich
kann es gar nicht fassen, dass ich eines Tages die Herrin eines so noblen
Hauses sein werde!«
Was?! Hatte sie das richtig verstanden? Vitória
starrte Joana mit offenem Mund an. Natürlich, so weit hatte sie noch gar nicht
gedacht: Irgendwann wäre Pedro der Herr von Boavista, und seine Frau hätte hier
das Sagen. Sie, Vitória, die auf der Fazenda aufgewachsen war, die sich
jahrelang um alles gekümmert hatte, die Boavista von ganzem Herzen liebte, würde
dann zu einer Randfigur degradiert werden. Als verheiratete Frau wäre sie als
Besucherin willkommen, als ledige Schwester und Schwägerin würde man sie hier
bestenfalls dulden, wenn sie die Pflege der alten Eltern übernahm.
»Vita, es tut mir Leid. Mir ist das so
herausgerutscht. Ich ...«
»Schon gut, Joana. Du hast ja Recht. Ich hatte nur
noch nie darüber nachgedacht, und der Gedanke ist für mich ebenso neu und
unfassbar wie für dich. Aber Boavista ist ja groß genug für uns alle.«
War es das wirklich? Sicher, Platz genug war
vorhanden. Und an Arbeit mangelte es ganz gewiss nicht, sodass jeder seine
Nische finden konnte.
Aber wollte sie das? Wollte sie Pedro und seiner
Frau, so gern sie die beiden auch leiden mochte, die Macht überlassen? Wollte
sie sich ihnen unterordnen, so wie sie sich jetzt dem Willen ihres Vaters fügen
musste?
»Voilà, ein Glas Limonade!« Pedro riss sie aus
ihren trübsinnigen Gedanken.
»Da du uns nichts zu trinken angeboten hast,
habe ich mich dieser Pflicht angenommen. Auf uns!«
»Auf uns«, wiederholten Joana und Vitória wie
aus einem Mund. Sie lächelten einander an.
»Ich denke, das wird nicht die einzige Übereinstimmung
gewesen sein«, sagte Joana und zwinkerte Vitória zu.
Pedro hatte zwar den Eindruck, dass die beiden
jungen Frauen über etwas sprachen, das ihn nichts anging, doch er pflichtete
seiner Verlobten bei: »Ganz gewiss nicht. Ihr ähnelt euch viel mehr, als ihr
ahnt.«
Taten sie das? Und ob das gut so war? Doch bevor
Vitória über die tiefere Bedeutung dieser Feststellung nachgrübeln konnte, kam
Miranda in den Raum gestürzt.
»Schnell, Sinhá! Das Eis kommt!«
Nach dem Abendessen, bei dem die Familie über
weitere Details der Feier diskutiert
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