Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
Wichtigste ist die musikalische Gestaltung. Wlad, dir haben sie bereits erklärt, worauf es ankommt. Die Musik dauert exakt dreißig Minuten, die Handlung muß diesem Zeitrahmen angepaßt sein. Achtet auf die Großaufnahmen. Normalerweise wird diese Vorbereitung bei uns gemeinsam mit dem Regisseur gemacht, aber da du ja ein Profischauspieler bist, Wlad, dürftet ihr, glaube ich, allein zurechtkommen.«
»Tun wir«, brummte Wlad und kletterte wieder auf seinen Hocker.
»Bist du wirklich ein echter Profischauspieler?« fragte Swetlana neugierig, als Semjon die Tür hinter sich zugezogen hatte.
»Wie, sehe ich etwa nicht so aus? Du glaubst wohl, die Kleinen taugen nur für den Zirkus?« antwortete er erbost. »Willst du auch einen Tee?«
»Gern.« Swetlana wollte sich möglichst anpassen. »Warum bist du gleich so böse? Darf man nicht mal mehr fragen? Ich hab’ so Kleine wie dich einfach noch nie gesehen.«
»Jetzt hast du einen gesehen. Machen wir uns an die Arbeit. Her mit dem Recorder, wollen wir uns mal anhören, was die da zusammenkomponiert haben.«
Je länger die Kassette lief, um so seltsamer wurde es Wlad zumute. Er hatte das Drehbuch noch nicht gelesen und versuchte, sich anhand der musikalischen Begleitung vorzustellen, wie die Handlung verlief. Hinter dem trügerisch schönen, zarten Hauptthema war eine wachsende Spannung zu erahnen, die eine allesverschlingende Liebe in tödlichen Haß umschlagen ließ und nach einem tragischen Ende verlangte, einer verheerenden Zerstörung.
Swetlana hörte nicht besonders aufmerksam zu, sie betrachtete die Geschirrschränke an den Wänden, schlürfte ihren Tee, knabberte Kekse. Als die Musik abbrach, drückte Wlad auf Rewind.
»Noch nicht genug gehört?« fragte das Mädchen spöttisch.
»Hast du das Drehbuch schon gelesen?« fragte Wlad ausweichend.
»Nee«, meinte sie sorglos gelangweilt. »Wozu? Die haben mir doch schon gesagt, daß es um den Ödipuskomplex geht. Mama schimpft immer mit ihrem Sohn, und aus Rache träumt er davon, sie zu vergewaltigen. Bah, was für ein elender Mist.« Sie schüttelte sich angewidert. »Aber mit dir könnte es sogar interessant werden. Ich habe es noch nie mit einem Liliputaner gemacht.«
»Halt die Schnauze, blöde Kuh«, fuhr ihr Wlad grob über den Mund. »Spar dir den Humor für deine Bettgesellen. Hier wird gearbeitet.«
Swetlana blickte ihren Partner erstaunt an, dann ging sie zu ihm hin, nahm ihn in den Arm und drückte in mütterlicher Geste seinen Kopf an ihre Brust.
»Hey, Junge!« meinte sie zärtlich. »Laß uns Freunde sein, hm? Eben erst kennengelernt und schon motzen. Wir sollen Vater-Mutter-Kind spielen, also tun wir es auch. Haben sie dir eigentlich gesagt, wozu sie so einen bescheuerten Film drehen?«
»Angeblich ein Lehrfilm für ein psychiatrisches Institut.«
Wlad schloß die Augen und vergrub seinen Kopf zwischen ihren weichen Brüsten, er atmete den warmen Geruch von Körper und Parfum ein.
Mir haben sie aber ganz was anderes gesagt, dachte Swetlana. Es soll ein gewöhnlicher Porno für Liebhaber von Exotischem werden. Und sie haben mich extra vorgewarnt, ich solle ihm vorher nichts sagen. Sieht aus, als ob sie recht hätten. Dieser Wlad ist so was von böse, voller Komplexe, daß er vor Schreck vielleicht nichts mehr auf die Reihe bringt. Der ist doch drogensüchtig. Morgen vor der Aufnahme setzt er sich einen Schuß – und alles läuft wie geschmiert. Der wird nicht einmal mehr wissen, daß er Liliputaner ist.
Zuerst überflog Wlad das Drehbuch, dann las er es noch einmal genauer. Dieser Dicke, der mit Semjon am Flugplatz gewesen war, hatte nicht gelogen: Eine solch herzzerreißende Mischung aus Liebe und Haß konnte kein Kind spielen. Das Drehbuch stammte nicht von einem Schriftsteller, sondern von einem Regisseur, exakt angegeben waren die Totalen, die Halbtotalen, die Zooms, die Kamerafahrten. Jetzt mußte man versuchen, Musik und Handlung zusammenzubringen.
Er schaltete den Recorder wieder ein und ging nun gleichzeitig den Text durch, machte sich mit Bleistift Anmerkungen. Swetlana sah ihn bewundernd an und versuchte, nicht zu stören. Sie lauschte der Musik – es war schön, sogar erregend. Zu so einer Musik würde es wahrscheinlich sogar Spaß machen . . . Sie hatte ihren Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da hob Wlad den Blick und sah sie irgendwie schief lächelnd an.
»Laß uns proben. Wir sitzen am Tisch, du gießt Tee ein und fragst mich über die Schule aus.«
»Und was soll
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