Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
was die örtliche Polizei von angereisten Moskauern hielt. Die Feindseligkeit wurde sorgfältig hinter vorgespielter Freundlichkeit verborgen, doch kaum war so ein Beamter der Moskauer Kripo oder des Ministeriums wieder draußen, ließen sie ihren Gefühlen freien Lauf. Weil sie die örtlichen Gepflogenheiten nicht kannten, machten die Abkommandierten aus der Hauptstadt bei ihrem Vorgehen oft alle sorgsam, mit viel Zeit- und Energieaufwand durchgeführten Ermittlungen zunichte. Man mußte sie in einem Hotel unterbringen, ihnen eine Telefonleitung nach Moskau freischalten, einen Chauffeur beschaffen und sie mit Wodka bewirten, um den guten Gastgeber zu mimen. Doch außer Kopfschmerzen brachten diese Angereisten meist nichts ein. Freilich gab es Ausnahmen. Wenn man ganz ehrlich war, dann gab es sogar mehr Ausnahmen als Regelfälle. Trotzdem ließ das Verhältnis zu den ›Helfern‹ aus Moskau einiges zu wünschen übrig.
Deswegen verordnete sich Nastja größtmögliches Taktgefühl. Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und ihre Schlußfolgerungen aufdrängen, sondern den passenden Moment abwarten, wenn der Kommissar von sich aus die nötigen Fragen ansprach. Mord war schließlich Mord, dachte Nastja, und es wäre einfach eine Sünde, den Kollegen nicht zu helfen, da sich nun schon mal die Möglichkeit dazu ergab.
Der Kommissar war höflich, sprach sie mit Namen und Vatersnamen an, gestattete ihr freundlicherweise zu rauchen, falls sie es wünsche. Sein hageres Äußeres ließ ihn jugendlich unausgereift aussehen, doch das von Falten durchzogene Gesicht und die spärlichen Haare zeugten deutlich von seinem Alter. Der Anzug war gebügelt, das Hemd frisch, die Krawatte Ton in Ton.
Nastja hatte erwartet, der Kommissar werde die Version von Mord aus Eifersucht verfolgen und damit die gestern eingeschlagene Richtung fortsetzen. Indes begann er ihr Fragen zu stellen, wer wann angereist sei und ob nicht jemand in ihrer Gegenwart oder mit ihrer Hilfe versucht habe, Alferow kennenzulernen. Nastja begriff, daß damit die Möglichkeit eines Auftragsmordes überprüft werden sollte. Golowin hatte ihr gestern gesagt, daß der Ermordete als Fahrer für irgendeine Firma gearbeitet hatte, und zwar als Chauffeur des Generaldirektors. Wahrscheinlich hat sich die hiesige Kripo schon mit Moskau kurzgeschlossen, dachte sie. Warte nur ab bis morgen oder übermorgen, und es kommt sicher einer von Knüppelchens Leuten. Nastja bekam gute Laune.
»Anastasija Pawlowna, können Sie mir den Tag nennen, an dem Alferow im Sanatorium auftauchte?«
»Nein, kann ich nicht. Ich habe ihn erst bemerkt, als er mich im Park ansprach. Ist denn der Ankunftstag nicht in seiner Buchung vermerkt und im Anmeldungsbuch?«
Der Kommissar ignorierte ihre Frage völlig, als hätte er sie gar nicht gehört.
»Und Dobrynin haben Sie vor Alferow kennengelernt oder nach ihm?«
»Nach ihm. Einen Tag später.«
»Hat er Sie nicht gebeten, ihn mit Alferow bekannt zu machen?«
»Wozu?« Nastja war erstaunt. »Sie wohnten doch zusammen in einem Zimmer.«
Wieder reagierte der Kommissar nicht, sondern stellte gleich die nächste Frage.
»Wer von beiden, Alferow oder Dobrynin, hat Ihnen erzählt, daß sie gemeinsam ein Zimmer belegen?«
»Dobrynin. Sie saßen übrigens auch im Speisesaal zusammen.«
»Wieso ›übrigens‹?« fragte der Kommissar müde.
»Weil das bedeutet, daß sie auch gemeinsam angereist sind. Fragen Sie die Frau aus der Diätküche, sie wird es Ihnen erklären.« Nastja war schon kurz davor, ärgerlich zu werden, doch sie konnte sich noch rechtzeitig stoppen. Geduld, sagte sie zu sich selbst.
»Wer hat sich noch an Sie herangemacht während Ihres Aufenthalts im Sanatorium?«
»Damir Lutfirachmanowitsch Ismailow, aus Nowosibirsk, belegt eine ›Deluxe‹-Suite im ersten Stock.«
»Er hat Sie auch nicht gebeten, ihn mit Alferow bekannt zu machen?«
»Nein.«
»Er hat Ihnen keinerlei Fragen gestellt über ihn oder Dobrynin?«
»Nein.«
»Ist er vor Alferow aufgetaucht oder nach ihm?«
»Ich weiß nicht, seit wann Alferow hier war, und ich weiß nicht, wann Ismailow in der STADT angekommen ist, aber nicht nach dem zweiundzwanzigsten Oktober, einem Freitag. Vielleicht früher, aber keinesfalls später, das steht fest. Hat Ihnen Ismailow denn nicht selbst gesagt, wann er angekommen ist?«
»Anastasija Pawlowna, es ist jetzt nicht das erste Mal, daß Sie mir eine Frage stellen. Ich möchte nicht unhöflich sein, darum habe ich zuerst
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