Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
Brusttasche seiner grellfarbigen weiten Jacke ein Handy.
»Ich muß was besprechen«, sagte er.
»Nicht jetzt. Später«, kam die Antwort.
* * *
Der fünfundzwanzigjährige Alexander Kasakow, mit Spitznamen Chemiker, hatte keine Lust, die STADT zu verlassen. Er befürchtete, Vera könnte ihn suchen, und wer wußte schon, was das für Folgen haben könnte. Das mit dem Mord konnte er ihr schließlich nicht sagen.
Er hatte Vera vor einem Jahr kennengelernt, als er für ein Praktikum an ihre Schule kam, um Chemie und Biologie zu unterrichten. Zuerst war sie ihm gar nicht besonders aufgefallen, geschweige denn hatte er geahnt, welch heißes Interesse am ›erwachsenen‹ Leben sich hinter diesem unschuldigen Engelsgesicht verbarg. Noch bevor es Alexander bewußt wurde, waren die Nachhilfestunden in Chemie nach dem Unterricht zur täglichen Gewohnheit geworden, die Röcke – immer kürzer, der Duft des Parfums – immer betörender. Vera hatte sich als zielstrebiges Mädchen erwiesen, und, nachdem sie sich in Alexander verliebt hatte, die Sache auch knallhart durchgezogen, ohne sich zu scheuen, aufdringlich zu sein oder unzüchtig zu wirken. Kasakow hatte sie einige Wochen beobachtet, ihre äußeren Werte schätzen gelernt, ihre scharfe und unorthodoxe Auffassungsgabe, ihre Bereitschaft zu sexueller Freizügigkeit, und dann hatte er Vabanque gespielt.
»Vera«, hatte er mit leidendem Tonfall gemeint und traurige Augen gemacht, »ich liebe dich. Aber die Welt, in der wir leben, wird uns nicht verstehen. Du bist erst dreizehn, und ich vierundzwanzig. Wenn sie uns erwischen, schicken sie mich ins Gefängnis. Verstehst du das?«
»Blödsinn«, hatte das zauberhafte Geschöpf leichtsinnig erklärt, »ich bin schon lange kein kleines Mädchen mehr. Wir haben schon in der fünften Klasse ›Arztspiele‹ gemacht.«
Damit hatte der Chemiker freie Hand gehabt. Für die Aufnahmen Kategorie ›C‹ immer dasselbe Mädchen parat zu haben, war weitaus ungefährlicher, als jedesmal eine neue aufzutreiben. Unter die Kategorie ›A‹ fielen erwachsene Frauen, bei weitem nicht alle von ihnen waren Prostituierte, aber sie hielten alle den Mund. Mit den Nymphchen war es immer komplizierter und gefährlicher. Vera stellte sich für Kasakow als Glückstreffer heraus, besonders seit er ihr das Märchen von der Flucht ins Ausland aufgetischt hatte, wofür man Geld beschaffen müsse. Er hatte es gar nicht fassen können, wie ein so kluges Mädchen einen derartigen Blödsinn glauben konnte. Eine Zeitlang hatte er sogar geargwöhnt, sie stelle sich nur so gutgläubig. Doch eines Abends, als er und Vera sich bei ihm zu Hause die Zeit vertrieben, hatten sich seine Zweifel endgültig zerstreut.
»Nächstes Mal könnten wir zu uns auf die Datscha fahren, allerdings bin ich da nicht so gern«, hatte Vera an jenem Abend gesagt. »Seit Lilja weg ist, werde ich dort immer traurig.«
»Lilja, wer ist das?« hatte der Chemiker gefragt und es sich auf dem Kissen bequemer gemacht.
»Lilja ist Großvaters Geliebte. Vierzig Jahre jünger als er. Ach, wie hat Großvater sie geliebt!« Sie hatte neidisch geseufzt. »Mehrere Male pro Jahr hat er sie ins Ausland mitgenommen, mal in einen schicken Kurort, mal irgendwelche Museen anschauen. Irgendwie ist ihr wohl herausgerutscht, daß sie immer schon mal einen echten englischen Park sehen wollte, und da ist er mit ihr extra nach England gefahren. Lilja war so fröhlich und so gut. Großvater hat ihr eine Wohnung gekauft, aber auf der Datscha gefiel es ihr viel besser. Tagelang konnte sie vorm Haus sitzen und auf die Bäume schauen. Dann hat Großvater sie mit irgendeinem Ausländer verheiratet, und mit dem ist sie nach Wien gegangen. Vor ihrer Abreise bat sie mich, mit ihr noch mal auf die Datscha zu fahren, sie lief durch den Garten, streichelte jeden Baum. Und heulte fürchterlich. Sie meinte, die Zeit mit meinem Großvater sei die schönste in ihrem ganzen Leben gewesen. Immer wenn ich jetzt auf die Datscha komme, muß ich daran denken, wie sie geweint hat, deshalb werde ich dort immer traurig.«
»Und warum hat dein Großvater sie nicht selber geheiratet?«
»Du hast Nerven!« Vera war vom Kissen hochgefahren und hatte den Chemiker empört angestarrt. »Und Großmutter? Er hat nicht vor, sich von ihr scheiden zu lassen.«
Sie stammt nicht einfach nur aus einer wohlhabenden Familie, hatte der Chemiker damals gedacht. Diese Familie ist so reich, daß sie bereits einen anderen Blick auf das Leben hat.
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