Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
mich mit ihm unterhalten und dabei versucht, diesen Punkt wiederzufinden, bei dem mein Gehirn immer ein Warnsignal aussendet. Und ich fand ihn, als sich herausstellte, daß Schachnowitsch ihm das verheimlicht hatte, was er Dobrynin nicht verheimlicht hat. In jenem Moment wußte ich genau, daß Schachnowitsch aus irgendeinem Grund Zugang zu mir suchte, und ich bin auf mein Zimmer gerannt, um darüber nachzudenken. Leider kam mir Damir in die Quere. Aber auch das werde ich Ihnen nicht erzählen, denn Sie haben mich ja gewarnt, ich sei eine dumme Gans, und meine Gedankengänge seien nicht würdig, Ihr Gehör zu finden.
»Wie lange haben Sie sich im Park mit Alferow unterhalten?«
»Ungefähr zehn Minuten.«
»Sie grenzen die Zeit so genau ein, haben Sie auf die Uhr gesehen?«
»Ich habe eine Zigarette geraucht. Das dauert ungefähr zehn Minuten.«
»Was war dann?«
»Dann bin ich aufgestanden und durch die Allee in Richtung Wohntrakt gelaufen, ich wollte zurück auf mein Zimmer.«
»Sind Sie unterwegs jemandem begegnet?«
»Ja, Ismailow. Er rief nach mir, ich bin zu ihm hin, und gemeinsam sind wir zurück ins Haus.«
»Außer Ismailow haben Sie niemanden gesehen?«
»Nein.«
»Als Sie ins Gebäude kamen, haben Sie da jemanden in der Halle bemerkt?«
»Selbstverständlich. Es saß jemand an der Rezeption, einige andere unterhielten sich in der Ecke, wo die Sessel stehen.«
»Können Sie mir sagen, wer?«
»Nein, ich kenne sie nicht.«
»Würden Sie sie eventuell wiedererkennen?«
»Nein. Ich habe nicht genauer hingesehen. Außerdem standen sie ziemlich weit weg.«
»Als Sie zurück im Gebäude waren, sind Sie dann auf Ihr Zimmer gegangen?«
»Nein.«
»Wohin gingen Sie?«
»Auf das Zimmer von Ismailow.«
»Warum?«
»Darum.«
Ein ungutes Schweigen hing in der Luft. Endlich begann der Kommissar zu lächeln.
»Anastasija Pawlowna, wie soll ich Ihre Antwort verstehen? Als Information oder als Frechheit?«
»Als Information. Nehmen Sie einfach an, ich hätte einen sehr beschränkten Wortschatz.«
»Na gut, nehmen wir an, Sie sind mit zu Ismailow zu einer intimen Begegnung, über die Sie nicht sprechen möchten. Wie lange blieben Sie auf seinem Zimmer?«
»Ziemlich lange. Während dieser Zeit konnte ich fast die Hälfte eines abendfüllenden Kinofilms sehen, einen Kaffee trinken und sogar eine Unterhaltung mit Ismailow führen. Alles in allem rund zwei Stunden.«
»War Ismailow die ganze Zeit im Raum?«
»Ja.«
»Er ist nirgendwohin verschwunden?«
»Nein.«
»Sind Sie absolut sicher?«
»Ja.«
»Sind Sie sich darüber im klaren, daß Ihre Aussage die einzige Bestätigung eines Alibis Ismailows für die Tatzeit ist? Ungenauigkeiten bei Ihren Angaben könnten unangenehmste Folgen haben.«
Sie brauchen mir keine angst zu machen, auch nicht auf so intelligente Art und Weise. Es hätte Ihnen auffallen müssen, daß sich alle meine Aussagen durch außergewöhnliche Genauigkeit auszeichnen. Mit diesem primitiven Mittel versuche ich Sie davon zu überzeugen, daß ich sehr wohl weiß, was Sie da tun, und daß auch ich das eine oder andere von Verbrechensaufklärung verstehe. Erst recht bei Mord, nicht umsonst arbeite ich in der Abteilung für schwere Gewaltverbrechen.
»Das ist mir vollkommen bewußt. Ich habe nicht die Absicht, Ismailow zu decken. Ich sage nur, was der Wahrheit entspricht.«
»Ja, aber wieso, Anastasija Pawlowna? Wenn Sie auf das Werben eines Mannes eingehen und nachts mit auf sein Zimmer gehen, zu einer intimen Begegnung, dann dürfte bei Ihnen völlig natürlicherweise der Wunsch aufkommen, ihn vor Unannehmlichkeiten zu schützen. Wieso also kommt bei Ihnen dieser Wunsch nicht auf?«
»Weil ich ein Mensch mit normalem Intellekt und gesunder Psyche bin. Noch bin ich in der Lage, die Annehmlichkeiten eines Flirts nicht mit meinem Verständnis von Bürgerpflicht durcheinanderzubringen, das mich dazu anhält, offenkundige Falschaussagen zu unterlassen.«
In Wirklichkeit bin ich gar nicht mit zu ihm aufs Zimmer wegen einer, wie Sie es ausdrücken, intimen Begegnung. Es war für uns beide ein Spiel, das wir spielten, Damir aus Notwendigkeit und ich – aus Interesse. Er spielte mir Gefühl vor, weil er mich aus irgendeinem Grunde brauchte, und ich tat, als glaubte ich ihm, weil mich interessierte, wozu er das alles anstellt. Und jetzt interessiert es mich ganz besonders, weil er mich plötzlich so gar nicht mehr braucht. Wie schade, daß Sie darüber nicht mit mir reden
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