Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
hörte er den Anfang des Gesprächs und begriff, daß der Besuch der Kriminalistin Kamenskaja galt. So sehr er auch lauschen wollte, so hatte er doch Angst, daß auch Regina Arkadjewna das Gespräch hören konnte, die sich im Lehnstuhl niedergelassen und sich fest in den Mantel eingewickelt hatte. Das würde bedeuten, daß die Geschichte mit der verdächtigen Übersetzerin aufflog. Natürlich war der Mord an Alferow fast aufgeklärt, und Anastasija wurde nicht mehr als Köder für den Mörder benötigt. Andererseits ließ dieses ›fast‹ Jura keine Ruhe. Wenn die Aufklärung des Mordes hier in der STADT vorgetäuscht war, dann war das ganz sicher kein Moskauer Auftrag, sondern die Arbeit hiesiger Akteure. Für so was braucht man viel zu viele eigene Leute: seinen Gutachter von der Kriminalpolizei, der die Auskünfte über Fingerabdrücke auf Brief und Foto und über die Herkunft der Schreibmaschinenschrift gibt, wobei Chanin zum Verfassen des Bekennerbriefes eine der beiden Schreibmaschinen benutzt hatte, die in dem Laden standen, den er bewachte; man braucht seine Zeugen, in deren Anwesenheit die Hausdurchsuchung in der Wohnung Chanins durchgeführt wird; man braucht einen eigenen Untersuchungsleiter, der aus diesem ganzen Dreck ein fein säuberlich zusammengesetztes Stück Kuchen macht, den niemand zu essen braucht, da die Person, die zur Verantwortung zu ziehen wäre, tot ist. Ein Verbrecher aus einer anderen Stadt würde sich hier übernehmen, so etwas bringt nur die kriminelle Macht der STADT zuwege. Wenn Chanin tatsächlich nur vorgeschoben ist, dann sind die wirklichen Mörder ganz in der Nähe. Die Frage ist, zu wem sie gehören, und wenn sie nicht zur Hauptmafia gehören und selbständig agieren, dann ist es sinnvoll, daß Asska weiterhin für eine Übersetzerin gehalten wird. Im anderen Fall wäre es dumm, an der falschen Identität festzuhalten: Die Mafia, die natürlich ihre Leute in der Polizeidirektion sitzen hat, weiß ohnehin, wer die Kamenskaja wirklich ist.
Aber was quäle ich mich, sagte sich Jura und schloß mit Bedauern die Balkontür. Meine Mission ist beendet, niemand wird sich mit dem Mord an Alferow beschäftigen, morgen früh reise ich ab. Asja bleibt hier, um sich weiter behandeln zu lassen, und niemand wird sie anrühren. Soll es Regina hören, das hat jetzt keine Bedeutung mehr. Aber wenn . . . Nein, ich kann es nicht riskieren. Ich muß warten.
* * *
»Kennst du das Märchen von den drei Bären?« fragte Nastja plötzlich und nahm Korotkow an die Hand. Sie gingen langsam durch die saubere, feuerglänzende abendliche STADT.
»Warum fragst du? Natürlich kenne ich das.«
»In diesem Märchen sind das Wichtigste die leitmotivischen Fragen des Hausherrn. Wer hat auf meinem Stuhl gesessen? Wer hat aus meiner Tasse getrunken? Wer hat in meinem Bett geschlafen? Obwohl weder Stuhl noch Tasse noch Bett irgendeinen Schaden erlitten haben. Dämmert dir etwas?«
»Noch nicht ganz.«
»Wenn Chanin eine gekonnte falsche Fährte ist, dann ist das das Werk lokaler Drahtzieher. Wenn sie selbst die eigentlichen Mörder sind, warum zum Teufel brauchen sie dann mich? Sicher nicht wegen meiner Analysen. Sie fürchten, daß ich etwas weiß und ihr Kartenhaus einstürzen lasse, das sie um Alferow herum errichtet haben, um darin seine sterblichen Überreste zu verbergen. Dann muß ich Angst vor ihnen haben.
Falls sie Alferow aber nicht getötet haben, dann erinnert ihre Bitte sehr stark an das Geschrei des wütenden Bären: Wer hat es gewagt, mein Terrain in Unordnung zu bringen? Denn sie sind ja nicht für jeden Mord zuständig, es gibt ja auch noch den banalen Mord und alle möglichen Zufälle. Sie werden sich nicht überanstrengen, damit in ihrer STADT alles so bleibt wie im Märchen über den sozialistischen Realismus. Eine Quote von zehn bis fünfzehn Prozent unaufgeklärter Morde ist völlig normal, einmal sind es mehr und einmal weniger, aber null Prozent gibt es nirgends.
Warum macht sie dieser Alferow so nervös? Warum haben sie diese Suppe mit dem armen Chanin und homosexuellen Leidenschaften garniert?«
»Das fragst du mich?« Korotkow lachte. »Ich hatte doch gehofft, daß du mir alles erzählen wirst, ich gehe schon zwei Stunden mit dir durch die STADT und warte, wann du endlich alle Fragen beantwortest.«
»Ich werde sie auch beantworten. Die Geschichte mit Chanin ist nicht mehr als das Zurechtrücken eines Stuhls oder das Ziehen an einer verknitterten Bettdecke. Wer hat hier
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