Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
an der Grenze der Legalität, manchmal auch jenseits dieser Grenze, aber das ist lange her. Jetzt bin ich ein ganz legaler Kapitalist. Ich nehme an, daß das bei Ihnen als Juristin keine Zweifel auslöst. Ich bin sehr reich. Aber im Alter bin ich sentimental geworden. Ich verspürte den Wunsch, Gutes zu tun. Und ich mache es.«
»Ich verstehe.« Sie nickte wieder.
»Dann sollten Sie auch etwas anderes verstehen, Anastasija Pawlowna. Mir ist es nicht gleichgültig, was in meiner STADT vorgeht. Auch was auf dem Gebiet der Rechtsordnung geschieht. Ich habe Gründe anzunehmen, daß in der STADT Verbrecher aufgetaucht sind, die einen Handel mit hebender Ware‹ organisieren, leichtgläubige Mädchen anwerben und in Bordelle des Nahen und Mittleren Ostens verschicken. Die Bemühungen der städtischen Polizei waren nicht gerade von Erfolg gekrönt. Deshalb möchte ich Sie um Ihre Hilfe bitten.«
»Warum gerade mich?« Nastja stellte die leere Tasse auf das Tablett und nahm sich eine Zigarette. »Warum glauben Sie, daß ich das kann, was eure Polizei nicht geschafft hat? Ich habe beileibe nicht die beste Ausbildung, unter Ihren Leuten gibt es vermutlich genug mit mehr Erfahrung und besseren Kenntnissen der örtlichen Gegebenheiten.«
»Weil diese Bande auf irgendeine Art mit dem Sanatorium ›Doline‹ zusammenhängt, Anastasija Pawlowna. Mehr noch, gerade jetzt in diesen Tagen ist dort irgend etwas im Gange. Und das können nur Sie herausfinden. Wir haben eine interessante Information, und wenn Sie sich bereit erklären, uns zu helfen, wird sie Ihnen zur Verfügung gestellt. Wollen Sie Bedenkzeit oder werden Sie gleich antworten?«
»Ich brauche Bedenkzeit.«
»In diesem Fall. . .« Er blickte auf die Uhr. »Jetzt ist es ein Uhr fünfzehn. Wieviel Bedenkzeit brauchen Sie?«
»Mindestens eine Stunde.«
»Können Sie mir um vierzehn Uhr dreißig Ihre Entscheidung mitteilen?«
»Ja«, versicherte Nastja.
»Bleiben Sie hier, oder soll ich Sie irgendwo hinbringen?«
»Ich bleibe hier. Hier gibt es guten Kaffee, und es ist einigermaßen ruhig.«
»Gut. Pünktlich um vierzehn Uhr dreißig kehre ich zurück. Und noch etwas, Anastasija Pawlowna: Unabhängig davon, wie Ihre Antwort ausfällt – kann ich damit rechnen, daß Sie die Einladung annehmen, bei mir zu Hause zu Mittag zu essen?«
»Nein, Eduard Petrowitsch. Ich bitte, mich richtig zu verstehen. Falls ich eine Mitarbeit ablehne, fahre ich besser ins Sanatorium zurück. Wenn ich annehme, ist es was anderes. Dann bin ich mit Vergnügen Ihr Gast.«
Denissow erhob sich, warf sich die Jacke über und verbeugte sich vor Nastja.
»Auf baldiges Wiedersehen, Anastasija Pawlowna.«
* * *
Denk, mein Kind, denk schneller, sprach Nastja Kamenskaja zu sich, du hast nur eine Stunde zu deiner Verfügung. Er verbirgt nicht, daß er der wahre HERR der STADT ist. Das ist schon mal gut, das heißt, er hält mich nicht für eine vollständige Idiotin. Er präsentiert sich als reicher, sentimentaler Wohltäter, um mich nicht in eine unangenehme Lage zu bringen. Auch das ist gut, das heißt, er will mich nicht erschrecken. Folgt daraus, daß er mich kaufen will und daß ich über Alferow schweigen soll? Oder ist die Geschichte mit dem Mädchenhandel wahr? Wenn sie wahr ist, mache ich mit, die Aufgabe ist interessant. Und wenn es doch um Alferow geht? Wie soll ich es überprüfen? Denk nach, Nastja.
Die Aufklärung des Mordes an Alferow konnte nur er inszeniert haben. Warum hat er das getan? Wenn ich das verstehe, kann ich eine Entscheidung fällen. Und wenn ich es andersrum versuche? Für wen hält er mich? Für einen Menschen, der die Wahrheit über den Mord wissen kann und deshalb gefährlich ist? Wenn ja, dann muß ich mich aus dem Staub machen, solange es noch geht. Wie kann ich das klären?
Nastja trank drei Tassen Kaffee, bemalte einen Stoß Servietten mit Zeichen und Schnörkeln, bis sie zu einer Entscheidung gelangt war. Vor Anspannung wurde ihr heiß, die Handflächen waren feucht, das Herz schlug ihr bis zum Hals, die Finger zitterten wie bei einer Alkoholikerin. Ist der Kaffee hier etwa nicht verdünnt, dachte sie. Ich muß versuchen, mich zu entspannen.
Die Lösung war einfach und überhaupt nicht kompliziert, aber sie erlaubte, mit einem Schlag alle Fragen zu beantworten und die Situation richtig einzuschätzen. Nastja blickte auf die Uhr – vierzehn Uhr zwanzig. Sie nahm die Zeitung aus der Tasche, die sie morgens am Kiosk des Sanatoriums gekauft hatte, legte sie
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