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Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain

Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain

Titel: Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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vor sich hin und begann, aufmerksam die erste Seite zu studieren. Jetzt wird er gleich zurückkommen. Wie wird er auf die Zeitung reagieren? Wird er sagen: »Auf der letzten Seite ist übrigens ein sehr interessanter Artikel. Haben Sie ihn gelesen? Es stellt sich heraus, daß der Mord im Sanatorium ein Eifersuchtsmord war.« Das würde reichen. Sie konnte nur noch einen gewichtigen Grund für eine Ablehnung finden und die Beine in die Hand nehmen. Schade. Denn das Rätsel um den ›Handel mit lebender Ware‹ würde sie mit Vergnügen lösen. – Der Trick mit der Zeitung war noch in anderer Hinsicht hilfreich. Wenn Denissow sich auf den Artikel berief, konnte sie auf jeden Fall ihre Verwunderung äußern und zu verstehen geben, daß sie überhaupt keinen anderen Verdacht hatte, und sich damit außer Gefahr bringen.
    Aus den Augenwinkeln sah Nastja seinen Pullover am anderen Ende des Saales aufblitzen, aber sie hob nicht den Kopf. Ein Schatten fiel auf die Zeitung.
    Sie hörte die Stimme Eduard Petrowitschs:
    »Lesen Sie nicht diesen Blödsinn, Anastasija Pawlowna. Er ist nicht für Sie geschrieben.«
    Nastja erhob sich vom Stuhl. Das Zittern in den Knien war verschwunden, in ihrer Brust wurde es warm. Sie hätte ihn abküssen können.
    * * *
    Von seiner Arbeit als Küchenchef in einem teuren Moskauer Restaurant hatte Alan ohne Bedauern Abschied genommen. Für ihn, der ein aktiver Mensch war und alles selbst machen wollte, war das Kontrollieren und Einkaufen uninteressant. Außerdem waren die Köche meist nicht die Besten. Dementsprechend waren nach Meinung des spitzfindigen Alan auch die Ergebnisse ihrer Arbeit. Eine gute Küche ist eine eigene Welt, ein Kosmos von Gerüchen, Farben und Geschmacksempfindungen mit eigener Harmonie, mit Traditionen, Zeremonien, Etikette. Und diesen Gesetzen wollte er dienen.
    Der Vorschlag Denissows, bei ihm zu arbeiten, entsprach genau Alans Vorstellungen. Jetzt stand ihm alles zu Diensten: Geld, teure Ausrüstung, aber was die Hauptsache war – nur hier, bei Eduard Petrowitsch, konnte er nach den Traditionen der verschiedenen Nationalküchen kochen. Mühevoll hatte er sich in den letzten Jahren die dazu notwendigen Küchengeräte zugelegt: Wenn sie Alan ein Geschenk machten, wußten die ›Freunde‹ und ›Kollegen‹ Denissows, daß sich Eduard Petrowitsch dankbar gegenüber solchen Aufmerksamkeitsbezeugungen für seinen Leibkoch zeigte. Hier, in der ehemaligen Einzimmerwohnung, die nun Alans Reich war, dienten all diese Kaffeebrenner, Kessel, Backformen, Tontöpfe, Roste und sonstigen raffinierten Vorrichtungen den Gesetzen der Küche. Und die Küche war für die Festessen da.
    Alle Festessen teilte Alan in rituelle und individuelle ein. Erstere waren beinahe schablonenhaft und forderten keine Phantasie, dafür aber Sorgfalt. Die samstäglichen Mittagessen mit der ganzen Familie, die Festmahle und Jubiläen sowie die Geschäftsessen sprengten niemals den – zugegeben hochklassigen – Rahmen der alltäglichen Küche.
    Letztere aber, die individuellen Festessen, waren die Stärke Alans. Er hatte schon lange die Beschränktheit der banalen Weisheit verstanden, daß der Weg zum Herzen eines Mannes durch den Magen gehe. Nicht zum Herzen, sondern zum Verstand, zu seiner menschlichen Natur führte dieser Weg. Und nicht nur des Mannes, sondern des Menschen überhaupt. Jeden Menschen kann man sich wohlgesonnen machen oder ihn abstoßen, ihn zwingen, seinen Wert oder seine unendliche Nichtigkeit zu spüren, auch wenn diese Bedeutsamkeit oder Nichtigkeit in Wirklichkeit gar nicht gegeben ist. Man kann einen Menschen verstehen und ihm gleichzeitig ein Spiegelbild seiner selbst geben, wenn man mit ihm eine gewisse Zeit zusammen speist, mit den richtig ausgewählten und sorgfältig zubereiteten Gerichten. Denn die Feinheiten des Umgangs mit dem Besteck, dem Geschirr und den Gläsern kennt heute kaum noch jemand. Sogar das Fleisch, das in einem irdenen Töpfchen zubereitet wird, einem einfachen russischen Töpfchen, macht vielen Probleme: Wohin denn mit diesem Töpfchen, was damit anfangen, nimmt man Löffel oder Gabel, und soll man direkt aus dem Töpfchen essen? Was soll man mit den Spießen machen, die auf dem Kohlengrill stehen? Wie geht man mit einer Auster um, öffnet man sie mit einem Messer oder mit etwas anderem? Vielleicht mit den Fingern? Ja, sogar eine einfache Tomate, die so appetitlich neben einem unbekannten Etwas auf einem Salatblatt liegt, – sogar sie kann unangenehme

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