Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
dreiundzwanzigjährigen Burschen her war, für den er weder Haß noch Wut, noch sonst etwas empfand? Wie war es möglich, daß er sich selbst in diese Falle manövriert hatte? Er, der kriegserfahrene General, Kommandeur einer Luftlandedivision, der an zahlreichen Kämpfen teilgenommen hatte, war sein Leben lang ein Mensch von unerschütterlichem Pflichtgefühl gewesen. Aber vielleicht war gerade das zu seinem Verhängnis geworden.
Er war im letzten Kriegsjahr geboren, zwei Monate nachdem sein Vater an der Front gefallen war. Seine Mutter starb, als er vier Jahre alt war, und der Onkel seines Vaters nahm ihn bei sich auf. Der alte Vakar hatte adliges Blut in den Adern und hielt den Militärdienst für eine ehrenvolle Sache. Da es nicht leicht für ihn war, den Jungen, der nur eine winzige Waisenrente bezog, durchzubringen, schickte er ihn auf die Suworower Militärschule.
Seine Kindheit und Jugend verbrachte Wladimir Vakar in der Kaserne. Das Familienleben kannte er nur aus Büchern, die er vom Großvater zu lesen bekam und die er gierig verschlang. Die Turgenjewschen Mädchen, die Tschechowschen Familienabende mit Tee aus dem Samowar, die Patriarchen, die inmitten ihrer Kinder und Enkel an der Spitze der Tafel saßen – alles das hatte seine Vorstellung vom Familienleben geprägt. Mindestens drei Kinder, der Geruch nach frischen Kuchen, eine wohlgeformte, immer lächelnde Gattin, die ihrem Ehemann in allem ergeben war und ihm überallhin folgte, von Garnison zu Garnison – so in etwa sah das Ideal aus, das er für die Zukunft anstrebte.
Seine zukünftige Frau lernte er auf einem Neujahrsball der Offiziersschüler kennen, zu dem die Studentinnen der pädagogischen Fakultät eingeladen waren. Jelena hatte eine stattliche Figur und trug einen dicken, langen Zopf, wodurch sie sich vorteilhaft von ihren Kommilitoninnen unterschied, die alle in Brigitte-Bardot-Frisuren und neumodische Ponys vernarrt waren.
Der lang aufgeschossene, breitschultrige Vakar mit dem männlich markanten Kinn, den ernsten Augen und dem charmanten Lächeln, das seine blitzend weißen Zähne zeigte, mußte sich nicht anstrengen, um seine Auserwählte für sich zu gewinnen.
Ein Jahr nach der Hochzeit machte Jelena eine Abtreibung. Vakar war niedergeschmettert. Er konnte nicht verstehen, daß es Menschen gab, die keine Kinder wollten. Je mehr Kinder man hatte, desto besser. Er flehte seine Frau an, das nächste Mal nicht wieder dasselbe zu tun. Er gab sich große Mühe, ein vorbildlicher Ehemann zu sein und Jelena alles recht zu machen, wenn sie ihm nur ein Kind gebar. Und schließlich kam ein Mädchen zur Welt, Lisa, ein Kind, das er seiner Frau regelrecht abgerungen hatte. Jelena tat so, als hätte sie ihm einen ungeheuren Gefallen getan, und nahm ihren Beruf wieder auf, kaum daß Lisa abgestillt war. Das Kind kam in die Kinderkrippe.
Lisa war ganz die Tochter ihres Vaters. Auch äußerlich und in ihrem Wesen kam sie nach den Vakars. Sie war hochgewachsen, sportlich, langbeinig, umgänglich und liebenswürdig. Wladimir hielt sie zur körperlichen Ertüchtigung an, schickte sie zum Schwimm- und Fechtunterricht, lehrte sie lesen und rechnen und brachte sie am ersten Schultag selbst zur Schule, mit einer kleinen hellblauen Schultasche auf dem Rücken und einem riesigen Gladiolenstrauß in der Hand. Lisa fühlte sich zum Vater mehr hingezogen als zur Mutter, die meistens mit sich selbst beschäftigt war.
Andrej kam erst fünf Jahre nach Lisa zur Welt. Vakar vermutete, daß dies vor allem mit der schweren Scharlacherkrankung zusammenhing, die Lisa im Alter von vier Jahren durchmachte. Jelena bekam plötzlich Angst, daß Lisa sterben könnte. Der schreckliche Gedanke, das Kind verlieren zu können, veränderte in einem einzigen Augenblick ihr ganzes Leben. Während sie Lisa bisher als ein Wesen wahrgenommen hatte, das sie an gemeinsamen Theaterbesuchen mit ihrem Mann hinderte, so gab sie sich Wladimir von nun an leidenschaftlich hin und flüsterte:
»Hab keine Angst, ich möchte, daß wir noch ein Kind bekommen.«
Andrej wurde, im Gegensatz zu Lisa, nicht das Kind seines Vaters. Aber er wurde auch nicht das Kind seiner Mutter. Er war ein Sonderling, immer in sich gekehrt, von niemandem abhängig, weder von seinen Eltern noch von seiner Schwester, noch von sonst jemandem. Daß es sich bei ihm um ein Wunderkind handelte, erfuhr Vakar, als Andrej drei Jahre alt war und Lisa acht. Es stellte sich heraus, daß er eine außerordentliche Begabung für
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