Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
die Malerei und für die Dichtung besaß. Von da an hatte sich in der Familie alles verändert.
Jelena begann, ihren Sohn wie einen Abgott zu behandeln. Sie verstand weder etwas von seinen Bildern noch von seinen Gedichten, aber sie war davon überzeugt, daß ihr Sohn ein Genie war und daß sie dieses Wunder hervorgebracht hatte. Es war ihre Lebensaufgabe, diesem Wunder zu dienen, seine Absonderlichkeiten und groben Ungezogenheiten zu dulden, weil er als Genie das Recht auf so ein Verhalten hatte.
Der Junge und seine Werke wurden Experten vorgeführt, Malern und Literaten, und alle kamen einstimmig zu der Überzeugung, daß Andrej Vakar ein Wunderkind war, ein großes Talent, ein ungewöhnliches Geschöpf. Jelena fürchtete, daß alles das sich als Irrtum erweisen könnte, als Illusion, als schöner Traum, deshalb schützte sie ihren Sohn lange Zeit vor der Öffentlichkeit, flehte die Maler und Literaten an, ihr Kind nicht den Augen der Welt preiszugeben. Sie trachtete nicht nach Ruhm, sie fühlte sich als Gottesmutter, und das war ihr genug. Der Junge wurde weiterhin in einen ganz gewöhnlichen Kindergarten geschickt, danach auf eine gewöhnliche Schule. Immer wieder wurden die Eltern zur Schulleitung bestellt und gebeten, auf ihren Sohn einzuwirken, weil er die Lehrer beleidigte, sich in den Pausen mit den anderen Kindern prügelte, sich eine Unverschämtheit nach der anderen leistete und sich demonstrativ weigerte, am Unterricht teilzunehmen. Eines schönen Tages hielt Jelena es nicht mehr aus.
»Wir dürfen das Kind nicht länger quälen«, sagte sie zu ihrem Mann. »In der Schule behandelt man ihn wie einen ganz gewöhnlichen Jungen, aber er ist ein Wunderkind, mit ihm muß man ganz anders umgehen, sehr viel behutsamer und feinfühliger. Man darf ihn nicht zwingen, am Sport teilzunehmen, wenn er gerade lieber malen möchte. Er ist zum Künstler berufen, wir dürfen nicht länger zulassen, daß er ständig diesen ganzen Unsinn mitmachen muß. Die Lehrer müssen begreifen, daß er ein besonderes Kind ist. Sonst bringen sie ihn um.«
Die Welt erfuhr von Andrej Vakars ungewöhnlicher Begabung, als er acht Jahre alt war, als bereits die ganze Wohnung mit seinen Bildern vollgehängt war und seine Gedichte und Poeme mehrere dicke Hefte füllten. Und es begann die Zeit des Ruhms für die Vakars.
Es vergingen weitere drei Jahre, und dann stand Wladimir Vakar eines Tages am Fenster, sah in den strömenden Regen hinaus und wartete auf das Auftauchen zweier Gestalten unter dem Bogen der Hofeinfahrt. Lisa hatte ihren Bruder zum Unterricht in die Kunstschule begleitet und mußte jeden Moment mit ihm zurückkommen. Vakar erblickte Lisa, die den Jungen aus irgendeinem Grund auf den Armen trug. Er begriff nicht, was das zu bedeuten hatte, bemerkte nur, daß das Wasser, das an Andrejs blauer Jacke hinabfloß, rosa gefärbt war. Lisa ging sehr langsam. Als sie in der Mitte des Hofes angelangt war, hob sie die Augen, erblickte im erleuchteten Fenster die Gestalt des Vaters und brach mit dem Jungen auf den Armen zusammen.
Zwei Tage später saß Vakar einer dicken, müden Untersuchungsführerin gegenüber.
»Was sollen wir mit ihnen machen?« sagte sie. »Keiner von ihnen ist vierzehn Jahre alt, nach dem Gesetz sind sie nicht strafmündig. Natürlich werden wir sie in eine Besserungsanstalt einweisen, aber mehr können wir nicht tun.«
»Und mein Sohn?« fragte Wladimir verwirrt. »Er ist doch tot. Jemand muß doch zur Verantwortung gezogen werden.«
Die Untersuchungsführerin zuckte mit den Schultern.
»Wir müssen uns an die Gesetze halten. Und die besagen, daß ein Kind unter vierzehn Jahren für seine Handlungen nicht verantwortlich ist und deshalb nicht bestraft werden darf.«
»Aber mein Junge!« wiederholte Vakar niedergeschmettert. »Meine Tochter ist verrückt geworden nach dem, was sie erlebt hat. Sie liegt im Krankenhaus und kommt nicht zu sich nach dem Schock. Jemand muß doch zur Verantwortung gezogen werden.«
»Ich fühle aufrichtig mit Ihnen«, sagte die Richterin leise. »Aber glauben Sie mir, das Gesetz hält nichts von der Idee der Vergeltung.«
»Dann ist es ein schlechtes Gesetz«, sagte Vakar mit Nachdruck und verließ den Raum.
Am nächsten Tag fragte Jelena ihn verständnislos:
»Worauf wartest du eigentlich? Du mußt unseren Sohn endlich rächen.«
»Ich kann mich nicht an Kindern rächen«, widersprach Wladimir. Die Worte seiner Frau entsetzten ihn.
»Sie haben unser Kind umgebracht«,
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