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Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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aus der Krone fallen.
    »Sagen Sie, was bedeutet Ihr seltsamer Spitzname?«
    Bokr, der bisher bedächtig im Zimmer umhergegangen war, blieb stehen und begann, auf seinen Füßen hin und her zu wippen.
    »Irgendwann einmal fiel mir ein Buch von Lew Uspenskij in die Hände . . .« begann er, und Nastja erinnerte sich sofort.
    »Natürlich, ›Wort über die Wörter‹, die berühmte ›glokaja kusdra‹. Warum ist mir das nicht gleich eingefallen!«
    Der Zwerg bedachte sie mit einem Blick voll unverhohlenem Respekt.
    »Zum ersten Mal in meinem Leben begegnet mir ein Mensch, der dieses Buch kennt. Ich beglückwünsche Sie. Ich habe es in der Bibliothek ausgegraben, als ich wegen Raubes in der Sommerfrische war. Stellen Sie sich vor, dieser Satz hat mich einfach umgeworfen, verhext, bezwungen. ›Glokaja kusdra schteko budlandula bokra i kudrjatschit bokrenka‹«, zitierte er begeistert, in singendem Tonfall. »Das ist doch ein Lied! ein Poem! Eine Romanze der russischen Morphologie!«
    Er leuchtete plötzlich vor Begeisterung, sein unförmiges Gesicht wirkte jetzt fast anziehend.
    »Diesem Satz verdanke ich mein Überleben im Lager. Ich habe angefangen, mich durch die Lehrbücher der russischen Sprache zu wühlen, um mich zu erinnern, was Morphologie ist. Das hat sich als durchaus nützlich erwiesen, wenn man bedenkt, was für ein sträfliches Faultier ich in der Schule war. Außerdem habe angefangen, selbst neue Wörter zu bilden und mir ganze Erzählungen auszudenken, wenn ich auf der Pritsche lag. Ich hatte eine Lieblingsheldin, die ich ›gurilnaja schabolda‹ nannte, und ich phantasierte mir für sie alle möglichen Geschichten aus. Es handelte sich natürlich ausschließlich um Kunstwörter, aber ich hielt mich streng an die Regeln der Morphologie. Das Spiel hat mich so begeistert, daß ich es schaffte, im Lager nicht zu verblöden. In der Kolonie gab man mir wegen meiner Leidenschaft den Spitznamen ›Kusdra‹, aber als ich wieder draußen war, in der Freiheit, habe ich mich in Bokr umbenannt, obwohl Kusdra natürlich lustiger klingt.«
    Er brach in schallendes Gelächter aus, er keuchte und kreischte wie ein hysterischer, wild gewordener Papagei. Seine Nasenspitze zuckte, die kleinen, rollenden Äuglein verschwanden irgendwo in den Höhlen, und für einen Moment schien es, als würden sie nie wieder hervorkommen. Er sah jetzt nicht mehr komisch aus, sondern vollkommen debil.
    Das Gelächter brach genauso abrupt ab, wie es eingesetzt hatte.
    »Ich muß Ihnen sagen, Anastasija Pawlowna, daß es nicht weniger interessant ist, bekannte Wörter auf neue Weise zu verwenden. Zum Beispiel ›Primotschka‹. Kennen Sie dieses Wort?«
    »Meinen Sie den Bleiumschlag, den man gegen Hämorrhoiden anwendet?«
    »Ja, unter anderem auch dagegen. Ich benutze das Wort für eine offensichtliche Dummheit, die sich jemand in den Kopf gesetzt hat. Hören Sie mal, wie das klingt: ›Er hat jetzt eine neue Primotschka, er will heiraten.‹ Wie finden Sie das? Ist das nicht auch ein Lied? Ein Poem?«
    Jetzt mußte Nastja lachen. Ihre Mutter hatte sie schon in ihrer Kindheit mit Fremdsprachen vertraut gemacht. Nastja verfügte über ein ausgeprägtes Sprachgefühl, und Bokrs linguistische Raffinessen kamen ihr vertraut vor und amüsierten sie. Ein Lagerpritschenlinguist. Nicht zu fassen.
    Nachdem sie den Gast zur Tür begleitet hatte, lungerte sie eine Weile unentschlossen in der Wohnung herum. Ljoscha war seit gestern wieder bei sich zu Hause in Shukowskij, heute hatte er ein Gespräch mit einem seiner Assistenten. Der Auswertungsbericht über die unaufgeklärten Mordfälle der letzten Jahre war abgeschlossen, vor Nastja lag das ganze freie Wochenende. Aber da war ja der Computer, den sie nutzen konnte, solange Ljoscha ihn noch nicht abgeholt hatte.
    Nastja mußte Gordejew jeden Monat eine Auswertung der unaufgeklärten Mordfälle und Vergewaltigungen liefern, die sich in dieser Zeit in Moskau ereignet hatten. Ein ganzer Berg von Monatsberichten hatte sich mit den Jahren angesammelt, und solange sie die Möglichkeit hatte, wollte sie diese Berichte in einer Datei zusammenfassen, um nachher damit arbeiten zu können. Sie schaltete den Scanner an und begann, die Resultate zehnjähriger Kleinarbeit in den Computer einzuspeisen.
    2
    Lisa stand in der Hofeinfahrt vis-à-vis des Hauses, in dem Dmitrij Sotnikow wohnte, und warf einen ungeduldigen Blick auf ihre Armbanduhr. Wo blieb er so lange? Der Unterricht in der Kunstschule war schon

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