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Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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erwiderte sie hartnäckig.
    »Wie dem auch sei, Jelena, es sind Kinder. Ich möchte darüber nicht mehr sprechen.«
    »Gut«, lenkte Jelena überraschend ein. »Ich werde warten, bis sie erwachsen sind. Aber du mußt dich rächen, sonst wird Andrejs Seele nie zur Ruhe kommen, und du erlangst niemals Vergebung.«
    Seit diesem Tag waren neun Jahre vergangen. Von den vier minderjährigen Mördern war nur noch Igor Jerochin am Leben. Generalmajor Vakar wußte, daß es seine Pflicht war, die Familie zu verteidigen, seiner Frau und seiner Tochter den Frieden wiederzugeben. Und wenn sie hundertmal im Unrecht waren, sie waren seine Familie, und er mußte seine Mannespflicht erfüllen, die Pflicht des Ehemannes und Vaters. Jetzt, da er bereits fast fünfzig war, begann er mit Bitterkeit zu begreifen, daß er sein Leben lang zwei wesentliche Worte mißverstanden hatte, die Worte »Pflicht« und »Familie«. Aber jetzt war es zu spät, er war in der Falle. Auf sein Konto gingen bereits drei Menschenleben, und bald würden es vier sein.

VIERTES KAPITEL
    1
    »Sie können mich einfach Bokr nennen.«
    Nastja betrachtete verwundert den Mann, der in der Tür stand. Er führte die Mannschaft an, die Denissow ihr geschickt hatte. Ein Meter mit Hut, sagte man gewöhnlich von solchen Leuten. Statt eines Hutes trug er allerdings eine wollene Skimütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte, sie umspannte eng die eingefallenen Schläfen und vorstehenden Backenknochen. Die kleinen, tief unter den dichten Brauen versteckten Äuglein des Mannes, die schiefe, zerbrochene Nase mit der zuckenden Spitze, die blutleeren Lippen, die einen schmalen Strich bildeten, und das mächtige, gespaltene Kinn – alles das erinnerte an eine exotische, gefährliche Eidechse. Er war mager, wirkte aber keinesfalls kraftlos, sondern schien aus stählernen Muskelsträngen zu bestehen. Außerdem war er ständig in Bewegung, er konnte keine Sekunde stillhalten, aber das hatte bei ihm nichts mit Hektik oder Nervosität zu tun. Er platzte aus allen Nähten vor Energie.
    Um neun Uhr dreißig hatte Nastjas Telefon geläutet, wie Eduard Petrowitsch Denissow es versprochen hatte, und eine halbe Stunde später stand in ihrer Wohnung bereits dieser wunderliche Typ in der grau-blau gestreiften Wollmütze und stellte sich mit seiner hohen Tenorstimme als Bokr vor.
    Er schnürte beflissen seine hohen, dick besohlten Schuhe auf, und nachdem er sie ausgezogen hatte, war er noch kleiner geworden. Den Mantel wollte er nicht ablegen.
    »Wohin darf ich Ihnen folgen?« fragte er geschäftig. Die ihm angebotenen Pantoffeln hatte er abgelehnt. Nastja mußte ein Schmunzeln unterdrücken, während sie ihn ansah in seinem langen grauen Mantel, mit der komischen Mütze und den rührenden hellblauen Söckchen.
    Nastja beschloß, ihm Gastfreundschaft zu erweisen.
    »Haben Sie schon gefrühstückt?« fragte sie, »möchten Sie mit mir eine Tasse Kaffee trinken?«
    Den Kaffee lehnte Bokr genauso höflich und entschieden ab wie die Pantoffeln.
    »Gut, dann kommen wir zur Sache.«
    Sie zeigte Bokr ein Polaroidfoto von Dascha Sundijewa und Alexander. Die beiden standen vor der Metrostation am Platz der Revolution und umarmten sich. Nastja hatte ihren Halbbruder gebeten, dieses Foto für sie machen zu lassen.
    »Dieses Mädchen hier ist davon überzeugt, daß es beschattet wird. Ich bin geneigt, ihr zu glauben, aber ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich möchte, daß Ihre Leute herausfinden, wer und was sie ist. Sollte es zutreffen, daß man sie beschattet, finden Sie heraus, wer sich so für sie interessiert. Und schließlich muß ich wissen, ob nur das Mädchen beschattet wird oder auch ihr Freund. Auf der Rückseite des Fotos stehen die Namen der beiden, wo sie wohnen und wo sie arbeiten. In drei Tagen müssen die ersten Ergebnisse vorliegen.«
    »Ist gebongt«, sagte Bokr ungerührt. Seine aufmerksamen Augen, die er nicht von Nastja abwandte, waren wie Kletten. »Was noch?«
    »Vorläufig ist das alles. Das weitere Vorgehen hängt von den Resultaten ab, die ich von Ihnen bekomme.«
    »Die zweite Iteration«, nickte das Männchen verständnisvoll.
    O, là, là! dachte Nastja, Denissow hat mir einen Intellektuellen geschickt, einen Knacki mit Bildung. Ist das eine Ehrenerweisung, ein Scherz, oder haben alle seine Untertanen einen Universitätsabschluß? Ein interessanter Typ. Bokr, Bokr. . . Woran erinnert mich das? Soll ich ihn fragen? Warum eigentlich nicht? Es wird ihm schon kein Zacken

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