Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
bereits habe, einen so genialen Bruder wie Andrjuscha.
Sie zweifelte keine Sekunde daran, daß Andrej weltberühmt werden würde, daß sie mit ihm zusammen zu seinen Ausstellungen ins Ausland fahren und daß sie Anteil haben würde an seinem Ruhm, seiner Ehre und seinem Reichtum. Sie würde Geld haben, Autos, Pelze und Brillanten. Und Männer, die um sie werben würden. Vielleicht würde sie sogar heiraten und im Ausland leben, in einem Haus mit Swimming-pool und Dienstboten.
Ihre Träume begannen bereits, sich zu erfüllen. Die Familie Vakar wurde zu einem Empfang in die belgische Botschaft eingeladen, nachdem man Andrejs Bilder für eine Ausstellung mit Kunstwerken hochbegabter Kinder in Brüssel ausgesucht hatte. Der Kulturattache selbst hatte ihr die Hand geküßt, sie zu ihrem Bruder beglückwünscht und ihn ein Wunderkind genannt; und irgendein Engländer hatte Lisa mit »Mylady« angesprochen. Auf einer Veranstaltung im Haus der Literaten, wo der Bruder seine Gedichte las, wurde Lisa von den besten und berühmtesten Schriftstellern und Dichtern des Landes angesprochen, einer von ihnen, genau derjenige, von dem alle ihre Mitschülerinnen schwärmten, sagte zu ihr: »Einer der großen Vorzüge Ihres Bruders besteht darin, daß er eine so zauberhafte Schwester hat. Wäre ich jünger, wüßte ich, wem ich einen Antrag zu machen hätte.«
Die Zeitschrift »Ogonjok« brachte einen zweiseitigen Artikel über den Bruder, mit Farbreproduktionen seiner Bilder und einem Foto der Familie. Lisa sah auf dem Foto sehr hübsch aus. Sie hatte ein nachdenkliches Gesicht mit zarten Lippen und ausdrucksvollen Augen.
Sie tat alles, um ständig in Andrjuschas Nähe zu sein. Sie wollte zur Notwendigkeit für ihn werden, ein unersetzlicher Bestandteil seines Lebens. Andrej Vakar sollte unvorstellbar werden ohne seine Schwester. Und zu ihrer eigenen Überraschung entdeckte Lisa, daß ihr Bruder tatsächlich eine ungewöhnliche Persönlichkeit war, unverständlich, aber sehr anziehend. Und zugleich war er ein Kind. Ihr kleiner Bruder. Seine Haut hatte einen zarten, kindlichen Duft, er schlief am liebsten ohne Kopfkissen und konnte Zahnpasta mit Pfefferminzgeschmack nicht ausstehen. Er hatte einen etwas schief gewachsenen Vorderzahn und eine Allergie gegen Orangen, es gefiel ihm, Lisas langes Haar aufzulösen und sein Gesicht darin zu verstecken, er geriet in Rage, wenn jemand in seinem Zimmer einen Gegenstand verrückte. Mit vierzehn Jahren erfuhr Lisa zum ersten Mal, was Zärtlichkeit und Zutraulichkeit waren.
Der Bruder war ihre Gegenwart, ihre Zukunft, ihr Glück. Er war das Versprechen eines Lebens, das sie selbst niemals hätte erlangen können als Tochter ihrer langweiligen, engstirnigen Mutter und eines Vaters, der nichts weiter war als ein primitiver Staatsdiener. Ihr Bruder war die Rakete, an der sie sich festklammern konnte, um in die große, glanzvolle Welt zu gelangen.
Und da war außerdem Dmitrij, Andrjuschas Lehrer an der Kunstschule, ihre erste Liebe, die sie für die einzige und letzte ihres Lebens hielt.
Und da war die Einladung nach Paris, zur Einzelausstellung von Andrej Vakars Bildern. Lieber Gott, wie hatte sie von dieser Reise geträumt!
Und da war dieser unnatürlich schwüle Sommertag, dessen atmosphärische Spannung sich gegen Abend in einem gewaltsamen Regenguß entlud. Sie war mit ihrem Bruder auf dem Heimweg von der Kunstschule. Sie gingen zusammen unter einem Schirm, eng aneinandergeschmiegt, sie fühlten sich so gut miteinander. Bis heute hatte sie nicht begriffen, wo diese Burschen plötzlich hergekommen waren.
Einer von ihnen schubste sie von hinten, sie stürzte und verlor den Schirm. Gleich darauf begann ein zweiter, ihr mit dem Fuß in den Bauch zu treten. Vor Schmerz wurde ihr schwarz vor Augen, sie sah nicht, wie zwei der Burschen mit riesigen Fleischermessern auf Andrjuscha einstachen.
Lisa schrie nicht. Alles in ihrem Innern war erstarrt vor Entsetzen. Mit den Bewegungen eines Automaten hob die groß gewachsene, kräftige Sechzehnjährige den mageren Jungen vom Boden auf, nahm ihn auf die Arme und trug ihn nach Hause. Sie schrie nicht, tat nichts, um Hilfe herbeizuholen, ihr Verstand hatte alle Türen zur Realität zugeschlagen, um ihr den unerträglichen Gedanken zu ersparen, daß mit ihrem Bruder etwas nicht Wiedergutzumachendes geschehen war. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Es war nicht wirklich.
Sie trug den Bruder langsam durch den strömenden Regen, ohne sein Gewicht
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