Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
Vom Netzwerk:
seit zwei Stunden zu Ende, aber Dima kam nicht nach Hause. Heute war nicht Donnerstag, aber sie stand trotzdem hier und wartete, obwohl sie wußte, daß er wahrscheinlich erst sehr viel später kommen würde. Oder er würde nicht allein kommen. Oder gar nicht. Trotzdem stand sie hier und wartete.
    Sie holte aus ihrer Handtasche ein Plastikdöschen, entnahm ihm zwei Tabletten und schob sie sich in den Mund. Dann öffnete sie den Schraubverschluß der schmalen Flasche, die sie ebenfalls in der Handtasche trug und nahm einen großen Schluck. Der Alkohol brannte nicht mehr in ihrem Hals, sie schmeckte ihn kaum noch. Sie wartete auf den Kick, ohne den sie nicht mehr leben konnte.
    Lisa begnügte sich schon lange nicht mehr mit den Medikamenten, die ihr die Ärzte im Überfluß verschrieben. Zunächst hatte sie einfach nur die Dosis der Psychopharmaka erhöht, die sie von den verschiedenen Ärzten bekam, die sie regelmäßig aufsuchte. Dann hatte sie festgestellt, daß es sehr wirkungsvoll war, Psychopharmaka mit Alkohol zu kombinieren. Schon nach kurzer Zeit war sie süchtig geworden, hatte sich in eine apathische, willenlose Drogenkranke verwandelt, die nur noch von der Idee der Rache für das ihr geraubte Lebensglück besessen war. Sonst interessierte sie nichts mehr. Ich kann mit den Tabletten jederzeit aufhören, wenn ich will, sagte sie sich, und ich werde aufhören, wenn alles vorbei ist, wenn endlich alle vier von der Erdoberfläche verschwunden sind. Sie belog sich und glaubte mit heiligem Ernst an ihren Selbstbetrug.
    Sie liebte Dmitrij Sotnikow schon lange nicht mehr. Ihre leidenschaftliche Verliebtheit war immer mehr abgestumpft und schließlich vollkommen erloschen unter der zersetzenden Wirkung der hochkarätigen Tranquilizer, die sie in großen Mengen einnahm. Aber Dmitrij war ein Teil des Lebens, das sie verloren hatte, und deshalb kam sie nicht von ihm los. Sie begriff, daß die Verbindung zu ihm keinen Sinn mehr hatte, trotzdem ging sie jeden Donnerstag zu ihm, schlief lustlos mit ihm und wartete ungeduldig auf den Moment, in dem sie das Gespräch endlich auf Andrjuscha lenken konnte. Mit ihrem Vater konnte sie ihre Erinnerungen an den Bruder nicht teilen, er entzog sich den Gesprächen über seinen Sohn, trug zu schwer an der Last der Rache an den Mördern. Ihre Mutter hatte völlig den Verstand verloren, sie redete nur noch von Andrjuschas Seele, die in der Welt umherirrte und keine Ruhe fand, solange »diese Bestien« am Leben waren. Nur Dmitrij sprach mit Lisa über den Bruder so, wie sie es wollte, einfühlsam und verständnisvoll.
    Lisa lag eine schwere Last auf der Seele. Sie wußte, daß es nicht der Bruder war, um den sie seit neun Jahren trauerte, sondern jenes wunderbare, glanzvolle Leben, das ihr durch seinen Tod für immer verlorengegangen war.
    Sie war vierzehn Jahre alt, als sie eines Morgens auf dem Schulweg ein Flüstern hinter sich hörte.
    »Schau mal, die dort, das ist doch Vakars Schwester!«
    »Du meinst Andrej Vakar?«
    »Ja, das Wunderkind.«
    Lisa drehte sich um und erkannte zwei Schülerinnen aus der Oberstufe. Die modisch gekleideten, attraktiven Mädchen sahen sie mit unverhohlener Neugier an. Mit Neugier und mit Neid. Diese Mädchen beneideten sie, Lisa Vakar! Die unauffällige, unbedeutende, mittelmäßige Achtklässlerin, die nichts anderes aufzuweisen hatte als ausgezeichnete Noten im Sport. In allen anderen Fächern bewegten sich ihre Leistungen zwischen drei und zwei minus.
    Zum ersten Mal war ein Lichtstrahl von Andrjuschas Ruhm auf sie gefallen, zum ersten Mal hatte das Mädchen diese wundersame, tückische Wärme auf der Haut verspürt.
    Bald darauf hatte sie bemerkt, daß auch ihre Mitschüler mit heimlicher Neugier über sie tuschelten und die Lehrer sie besser behandelten als bisher. Es erwies sich als sehr angenehm, Andrej Vakars Schwester zu sein. Wenn sie ihren Bruder in die Kunstschule begleitete, wo ihn alle kannten, fing sie mit Entzücken die Blicke der sympathischen Jungen auf, die mit ihren Malkästen in der Hand an ihr vorübergingen, ebenso die Blicke der in Leder und Pelz gehüllten Mütter, die draußen in glitzernden Autos auf ihre Götterkinder warteten.
    Sie begann, mit stolz erhobenem Kopf auf der Straße zu gehen, und während sie ihren kleinen Bruder fest an der Hand hielt, sagte sie sich immer wieder dasselbe: Ihr alle habt viel mehr als ich, aber mit der Zeit werde ich das alles auch haben. Und keiner von euch wird jemals das haben, was ich

Weitere Kostenlose Bücher