Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
auf ihren Armen zu spüren. Erst als sie das Haus erreicht hatte, die Augen zum Fenster hob und den Vater darin erblickte, verlor sie das Bewußtsein und brach auf dem nassen Asphalt zusammen.
Seit diesem Tag lebte sie nur noch von Tabletten. Zuerst begnügte sie sich mit zwei, drei Tranquilizern am Tag, dann begann sie, die Pillen händeweise zu schlucken. Ihre unreife Psyche wurde nicht fertig mit dem Verlust der Hoffnung auf das andere Leben, das sie sich erträumt und das sich bereits zu erfüllen begonnen hatte.
Dazu kam ein tiefes, ständig in ihr brennendes Schuldgefühl. Damals, vor vielen Jahren, hatte die Mutter dem Vater oft Vorwürfe gemacht, sie fand, daß er sich zu wenig um seinen Sohn kümmerte.
»Du denkst nur an deine blöde Arbeit, anstatt früher nach Hause zu kommen und das Kind abends zur Kunstschule zu bringen«, sagte sie. »Hältst du es etwa für gut, daß die Kinder abends allein durch die Dunkelheit gehen?!«
Wenn Lisa ihre Mutter so sprechen hörte, erstarrte sie. Um nichts auf der Welt wollte sie darauf verzichten, ihren Bruder zur Kunstschule zu begleiten. Für Andrej war es nur Malunterricht, aber für sie war es das ersehnte Wiedersehen mit Dmitrij. Niemand sollte sie daran hindern, ihren Angebeteten zu sehen, neben ihm zu sitzen, ihn anzuschauen, mit ihm zu sprechen. Wenn er Lisa darum bat, Modell zu sitzen, rückte er sie mit sanften Bewegungen in die richtige Pose, drehte ihr Gesicht zum Licht, brachte ihr Haar in malerische Unordnung. Das würde sie sich von nichts und niemandem nehmen lassen.
»Mach dir nichts daraus, Papa«, sagte sie mit sanfter Stimme, »laß die Mutter reden. Ich bin erwachsen genug, um Andrjuscha zu begleiten. Ich weiß doch, daß du viel arbeiten mußt und keine Zeit hast, während ich sowieso nichts zu tun habe.«
Nach dem Tod des Sohnes hielt Jelena ihrem Mann ständig sein Versäumnis vor.
»Wärst du bei dem Kind gewesen, wäre das nicht passiert. Deine blöde Arbeit war dir immer wichtiger als die Familie und deine Kinder.«
Der Vater wurde bleich und biß sich auf die Lippen, während Lisa sich verzweifelt ihrer Schuld bewußt wurde. Hätte ich die Kraft in mir gefunden, auf die Begegnungen mit Dima zu verzichten, dachte sie, hätte ich mich nicht so idiotisch verhalten, wäre Andrjuscha noch am Leben. Ich bin selbst schuld daran, daß mein Leben ruiniert ist. Mein Vater leidet, weil er sich schuldig fühlt, dabei war ich es, die nicht zugelassen hat, daß er sich um seinen Sohn kümmert. Ich bin es, die alles zerstört hat.
Das Gefühl der eigenen Schuld war unerträglich, Lisa erstickte es mit ihrem Haß gegen die minderjährigen Mörder. Nein, nicht Lisa selbst war schuldig, sie waren es, nur sie. Der Vater mußte sich an ihnen rächen. Sie mußten sterben.
Lisa stand in der Hofeinfahrt und blickte hinüber zu Dmitrijs Haus. Es war bereits dunkel, aber sie war sicher, daß sie Dimas Gestalt auch in schwärzester Finsternis erkannt hätte. Wo blieb er so lange? Sie wünschte sich, er würde endlich kommen und zwar nicht allein, sondern mit einer anderen Frau. Vielleicht würde es ihr dann endlich gelingen, das zu tun, was sie schon so lange vorhatte, ohne die Kraft und den Mut dafür zu finden.
Immer hatte sie die Donnerstage mit größter Ungeduld erwartet, sie hätte Dmitrij gern viel öfter gesehen, um mit ihm in die Vergangenheit einzutauchen. Doch gleich beim ersten Mal, als sie sich entschlossen hatte, ihn schon vor dem nächsten Donnerstag zu besuchen, hatte sie gesehen, wie er mit einer anderen Frau aus dem Wagen gestiegen und mit ihr zusammen im Haus verschwunden war. Aber statt Eifersucht hatte Lisa in diesem Moment nur Hoffnungslosigkeit empfunden und eine unendliche Müdigkeit.
Inzwischen hatte sie Dmitrij schon oft mit einer anderen Frau gesehen, aber es hatte nichts geholfen. Ihr Wille war zerstört von den Tabletten, doch ihr Gefühl war noch nicht ganz abgestorben. Sie begriff, daß Dmitrij sie nicht mehr liebte. Er war ihrer überdrüssig, es war ihm unangenehm, mit ihr zusammenzusein, mit ihr zu schlafen. Es mußte ihr endlich gelingen, das Band zu durchtrennen, ihn freizugeben, ihn endlich in Ruhe zu lassen. Sie hoffte auf die Kränkung, die ihr dabei helfen würde, doch zu ihrem Entsetzen empfand sie nichts. Jedesmal, wenn sie Dmitrij mit einer anderen Frau im Haus verschwinden sah, überkam sie nur Apathie. Sie gehen jetzt hinauf, dachte sie, legen sich ins Bett und bumsen. Danach wird Dima ihr einen Kaffee bringen.
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