Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
auf ein Foto von Jerochin. »Das ist der, den ich Ihnen gezeigt habe vor dem ›Orion‹. Erinnern Sie sich?«
»Noch jemand, den du erkennst?«
Dascha betrachtete aufmerksam die Fotografien, dann deutete sie unsicher auf eine Aufnahme von Udunjan.
»Den habe ich auch schon gesehen. Aber an irgendeinem anderen Ort, ich erinnere mich nicht. Er ist mir aufgefallen. Ein dunkelhaariger Mann mit hellen Augen – das ist selten. Und seine Augen waren so groß und leuchtend . . . Aber wo ist er mir begegnet?«
»Beschattet er dich auch?« wollte Nastja wissen.
»Nicht daß ich wüßte, aber ich bin sicher, daß ich mir sein Gesicht nicht im Zusammenhang mit der Beschattung gemerkt habe.«
»Und warum bist du so sicher?« fragte Nastja. »Du erinnerst dich daran, daß du ihn gesehen hast, aber weißt nicht mehr, wo. Dafür weißt du genau, wo du ihn nicht gesehen hast. Habe ich dich richtig verstanden?«
»Verstehen Sie, Anastasija Pawlowna, ich schaue sein Gesicht an und empfinde dabei keine Angst. Aber wenn ich den hier sehe«, sie deutete mit dem Finger auf das Foto von Jerochin, »wird mir schwindlig vor Angst, weil ich dieses Gesicht mit der Beschattung verbinde. Aber der mit den großen Augen macht mir keine Angst, das bedeutet, daß ich ihn in irgendeiner neutralen Situation gesehen habe.«
»Das macht Sinn«, gab Nastja zu. Die Szene in Konkowo, die sie am Vorabend auf dem Video gesehen hatte, ließ ihr nach wie vor keine Ruhe. Sie begriff immer noch nicht, was sie an dieser Szene so aufregte.
»Und den da habe ich noch nie gesehen.« Dascha deutete auf ein Foto, auf dem Viktor Kostyrja mit einer Dose Bier in der Hand zu sehen war. »Sein Gesicht sagt mir überhaupt nichts.«
»Und dennoch ist er dir auf den Fersen«, seufzte Nastja. »Du kannst dich selbst davon überzeugen.«
Sie stellte den Videorecorder an. Auf dem Bildschirm erschien Dascha, dann der ihr unbeirrt folgende Viktor Kostyrja. Jetzt saß Viktor auf der Bank vor ihrem Haus und blickte hinauf zu den Fenstern. Das Licht erlosch, Viktor ging zur Telefonzelle und wurde kurz darauf von einem Wagen abgeholt.
Daschas Gesicht war weiß geworden wie eine Leinwand.
»Wissen Sie«, sagte sie leise, »ich wollte das alles nicht glauben. Ich habe Angst gehabt, schreckliche Angst, aber ich habe mir immer gesagt, daß ich mich täusche, daß es unmöglich ist, daß ich es mir einbilde. Jetzt werde ich mich mit diesem Gedanken nicht mehr trösten können.«
Nastja fühlte plötzlich Mitleid mit dem verschreckten Mädchen, das, ohne es zu wissen, für jemanden zur Gefahr geworden war. Aber sofort rief sie sich zur Ordnung. Denk an die verschwundenen Papiere, schärfte sie sich ein, denk an die Diebstähle, wenn du Mitleid mit ihr bekommst.
Sie spulte die Kassette zurück und bat Dascha, das ganze Video von Anfang bis Ende anzuschauen.
»Sieh bitte genau hin, womöglich siehst du noch irgendwelche dir bekannten Gesichter.«
Dascha erfüllte die ihr gestellte Aufgabe mehr als gewissenhaft. Sie hielt das Band immer wieder an, studierte lange die Gesichter auf dem Bildschirm, spulte das Video mehrmals zurück und sah sich die zurückliegenden Sequenzen noch einmal an. Nastja saß auf dem Sofa, sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und die Augen geschlossen, sie wollte sich entspannen und einschlafen, aber statt dessen mußte sie warten, bis dieses seltsame Mädchen sich zwei Videos von je anderthalb Stunden Dauer bis zum Ende angesehen hatte. Ljoscha saß in der Küche und machte kultivierte Konversation mit ihrem Halbbruder Alexander. Es war bereits zehn Uhr, aber vor eins würde Nastja nicht ins Bett kommen, und am nächsten Tag mußte sie um sieben wieder aufstehen.
»Diesen Mann da habe ich schon einmal gesehen«, hörte sie Dascha plötzlich sagen. »Ich erinnere mich genau, es war in der Metro, an genau dem Tag, als dieser Verrückte mich belästigt hat.«
Nastjas Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie sprang vom Sofa auf wie von der Tarantel gestochen und stürzte zum Bildschirm.
»Welchen?«
»Diesen da.«
Dascha hielt das Band an und deutete auf einen korpulenten, halb kahlköpfigen Mann in einem braunen Regenmantel, der zusammen mit Jerochin und Kostyrja ein Restaurant betrat.
»Und du irrst dich nicht?«
»Anastasija Pawlowna, in meinem Beruf erwirbt man ein sehr gutes Personengedächtnis. Warten Sie . . .« sie verstummte, dann wurde sie wieder lebhaft. »Ja, natürlich, und den mit den auffälligen Augen habe ich auch an. diesem Tag
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