Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
eingefallenes Gesicht mit dunklen, nach innen gerichteten Augen, in denen der Wahnsinn stand.
»Verschwinde!« zischte sie ihn an, leise, aber sehr bestimmt. Sie war so aufgebracht und wütend, daß sich ihre Gesichtsmuskeln verzerrten.
Der Mann schob sich durch den überfüllten Wagen zur gegenüberliegenden Tür. Dascha holte einen Notizblock aus ihrer Handtasche und begann, die äußeren Kennzeichen des Psychopathen zu notieren, der während der Stoßzeit sein Unwesen in der Moskauer Metro trieb. Dascha zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie den Vorfall bei der Miliz melden mußte, aber sie wollte nicht zu spät kommen zu ihrem Treffen mit Sascha. Deshalb wählte sie die Variante, die ihr am einfachsten und richtigsten erschien: Sie notierte die äußeren Kennzeichen des Mannes mit der Absicht, den Zettel dem diensthabenden Milizionär in der Metro zu übergeben. Der würde dann das Nötige veranlassen.
Während sie schrieb, warf sie dem Wüstling immer wieder empörte, böse Blicke zu und bemerkte, daß er eine Hand in der Manteltasche hatte. Natürlich, dachte sie, mit einer Hand fummelt er an den Frauen herum, mit der anderen onaniert er, dieser Widerling. Und in diesem Moment erblickte sie den helläugigen Kaukasier, der ganz in der Nähe des Wichsers stand. Für den Bruchteil einer Sekunde traf sich ihr Blick mit dem seinen. Dascha wollte lächeln, doch der Kaukasier wandte sich ab.
Nachdem sie an der »Taganskaja« ausgestiegen und mit der Rolltreppe nach oben gefahren war, erblickte sie den jungen Milizionär mit dem rosigen, noch kindlich pummeligen Gesicht.
»Auf der Ringstrecke der Metro ist ein Mann unterwegs, der Frauen belästigt«, sagte sie und reichte dem Milizionär den Zettel. »Ich habe beschrieben, wie er aussieht, veranlassen Sie bitte das Nötige.«
Bevor der Milizionär antworten konnte, war Dascha schon zum Ausgang gelaufen. Draußen erwartete sie Sascha, sie stieg zu ihm ins Auto, und sie fuhren los. Das war die ganze Geschichte.
»An welchem Tag war das?« fragte Nastja.
»An einem Donnerstag«, antwortete Dascha prompt, »dienstags und donnerstags habe ich abends keinen Unterricht. Ich glaube, es war der letzte Donnerstag im September. Ja, ganz genau.«
»Bist du ganz sicher, daß es der Donnerstag und nicht der Dienstag war?«
»Ja, ich bin ganz sicher. Der Dienstag kann es nicht gewesen sein, weil meine Freundin am Dienstag Geburtstag hatte. Ich habe ihr per Telefon gratuliert, und wir haben uns für den Donnerstag verabredet.«
Nastja sah auf den Kalender. Der letzte Donnerstag im September war der neunundzwanzigste. Ihr begannen die Hände zu zittern. Der neunundzwanzigste September war der Tag, an dem bei der Metrostation »Taganskaja« ein Milizionär ermordet wurde, Sergeant Maluschkin aus der Abteilung für öffentliche Sicherheit in der Metro.
3
Artjom Resnikow wälzte sich schwerfällig von einer Seite auf die andere und preßte einen mit Eis gefüllten Gummibeutel an seine rechte Bauchseite. Sein Gesundheitszustand war für sein Alter nicht der beste, mal drückte es da, mal dort, mal mußte er Magenmittel einnehmen, mal Antihistaminika. In den letzten Jahren hatte er zugenommen, obwohl er auf seine Ernährung achtete, Fettes und Süßes vermied, aber offenbar hatte der Stoffwechsel nachgelassen. Da half keine Diät mehr, er mußte entweder zum Arzt gehen oder sich mit seinem Zustand abfinden.
»Wie geht es dir, mein Häschen?« Das Zimmer betrat Resnikows Frau, eine hagere, schon völlig ergraute Person mit einem jungenhaften Kurzhaarschnitt.
Sie war acht Jahre älter als Artjom, sie hatte ihn nicht aus Liebe, sondern aus Berechnung geheiratet, aber inzwischen hatte sich alles verändert. Resnikow war lange und leidenschaftlich in sie verliebt gewesen, während sie, seine Nachbarin, die zwei Stockwerke über ihm wohnte, ein Leben führte, das weder mit der Ehe noch mit dem komischen, bebrillten Artjom vereinbar war. Sie hatte viele Männer, viel Geld, sie war schön, charmant und anspruchsvoll, während Artjom wenig Geld hatte, und Schönheit und Charme fehlten ihm ganz. Dafür war er sehr ehrgeizig und besaß eine offenkundige Begabung für die exakten Wissenschaften. Die an Luxus gewöhnte Irina hielt sich ihn für alle Fälle warm, denn man konnte ja nie wissen. Und irgendwann kam tatsächlich der Tag, an dem sie froh sein mußte, daß ihr wenigstens der Spatz in der Hand geblieben war.
Über Nacht hatte sie plötzlich allein und mittellos dagestanden,
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