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Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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bewaffnete Putzfrau tauchte auf.
    »Junger Mann, wir haben Mittagspause«, erklärte sie in einem so empörten Tonfall, als hätte man ihr ein Stück Brot aus dem Mund gerissen. Und in diesem Moment erblickte Igor IHN. Er kam aus dem gegenüberliegenden Haus, in Begleitung einer jungen Frau in einem schwarzen Mantel und mit einem schwarzen Tuch auf dem Kopf. Igor erkannte sie sofort. Es war unmöglich, sie nicht zu erkennen, obwohl es so viele Jahre her war . . . Er erinnerte sich zu gut an ihr Gesicht von DAMALS. Und sie hatte sich seither nicht sehr verändert. Lieber Gott, dachte er, der Mann ist ihr Vater, die beiden sehen sich verblüffend ähnlich. Sie sind beide hochgewachsen, schlank, sie haben beide diese scharf ausgeprägten Gesichtszüge, dieselben grauen Augen unter den geraden, zu den Schläfen hinstrebenden Brauen. Wie war doch gleich der Name? Vakar? Ja, genau, Vakar.
    . . . Der Geschädigte Vakar Andrej . . .
    . . . Die Geschädigte Vakar Jelisaweta . . .
    An den Prozeß gegen den Bruder von Jura Oreschkin hatte Igor nur noch undeutliche, bruchstückhafte Erinnerungen. Gegen ihn und seine minderjährigen Freunde wurde nicht verhandelt, sie traten als Zeugen gegen Oreschkin auf, der wegen Anstiftung zum Mord angeklagt war. Zum Gericht wurden sie von ihren Eltern begleitet, von einem Revierbeamten, einer jungen Inspektorin für Jugendkriminalität und einem Kripobeamten. Man hielt sie alle vier an den Händen fest und ließ sie nicht los. Igor hatte große Angst, daran erinnerte er sich genau, alles andere verlor sich im Nebel. Der Gerichtssaal war voller Menschen, doch ihre Gesichter flossen zu einem einzigen undeutlichen Fleck zusammen. Er erkannte niemanden von den Anwesenden und erinnerte sich an nichts.
    Aber das Mädchen . . . Es hielt den Jungen in der blauen Jacke an der Hand und erschien Igor damals unglaublich schön, wahrscheinlich deshalb, weil ihr Gesicht vor Glück und Hoffnung leuchtete. Als Kolja Sakuschnjak sie umstieß und der rotznasige Ravil sie mit den Füßen zu treten begann, tat sie Igor einen Moment lang sogar leid . . .
    Jerochin ging wieder nach Hause, den Markt hatte er vergessen.
    »Und das Fleisch?« fragte die Mutter mit einem unzufriedenen Blick auf ihren Sohn, der mit leeren Händen zurückgekommen war.
    »Die Markthalle war geschlossen, sie haben heute Reinigungstag«, log Igor. »Hör mal, Mutter, weißt du etwas über Jura Oreschkin? Wohnt er immer noch in seiner alten Wohnung?«
    »Oreschkin?« Die Mutter sah Igor erstaunt an. »Weißt du es denn nicht? Der ist doch gestorben, liegt schon seit zwei Jahren unter der Erde.«
    »Gestorben? Wieso denn?«
    Igor spürte, wie seine Knie weich wurden, und setzte sich auf den Küchenhocker.
    »Er ist eben einfach gestorben«, sagte die Mutter triumphierend. Sie hatte die Freunde ihres Sohnes nie gemocht und war überzeugt davon, daß sie ihn verdorben hatten.
    »Man hat ihn erschlagen wie einen räudigen Hund, den Säufer. Er lag einen halben Tag in der Toreinfahrt, bis man ihn fand. Die Leute gingen vorbei und dachten, da liegt ein Betrunkener und schläft. Nebenan ist ein Spirituosengeschäft, und dein Jura hat sich dort ewig in der Warteschlange herumgedrückt.«
    Jerochin kam allmählich wieder zu sich. Nein, alles war gar nicht so schlimm, wie es schien. Jura war ein Säufer, und alle Säufer endeten früher oder später auf ähnliche Art. Dummerweise hatte Igor überhaupt keine Verbindung mehr zu den Freunden seiner Kindheit. Nach der Besserungsanstalt stromerten sie noch eine Weile miteinander herum, dann kamen sie zur Armee, und nach der Armee hatten sie sich nicht wiedergesehen. Warum war es so gekommen? Weil jeder inzwischen sein eigenes Leben hatte und kein Interesse mehr an den alten Freunden? Oder nistete im Unterbewußtsein aller ein schwarzes, unauslöschliches Grauen ob des einst begangenen Mordes, und sie trafen sich nicht, um sich nicht erinnern zu müssen?
    3
    Sie alle wohnten in der Nachbarschaft, keine zehn Gehminuten voneinander entfernt. Nachdem Igor an dem Haus vorbeigegangen war, in dem Jura Oreschkin gewohnt hatte, bog er um die Ecke, durchquerte eine Grünanlage, und nach einigen Minuten stieg er bereits die Treppen zu Sakuschnjaks Wohnung hinauf. Ihm öffnete eine steinalte Frau, Koljas Großmutter. Jerochin wunderte sich, daß sie noch am Leben war. Bereits in seiner Kinderzeit war sie eine runzelige, ausgetrocknete, halb blinde Greisin gewesen. Seltsamerweise sah sie immer noch genauso aus wie

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